Non plus ultra. Das Mittelmeer – wahrscheinlich das faszinierendste Meer der Welt

Ich wuchs am Meer auf,
und die Armut schien mir kostbar;
dann verlor ich das Meer,
und aller Luxus erschien mir fortan grau
und das Elend unerträglich.

Albert Camus (1913 – 1960)
in „Hochzeit des Lichts“ über seine Kindheit am Mittelmeer




An den Küsten der Meere gibt es viele magische Orte, doch in ihrer historischen, kulturhistorischen und sogar ozeanographischen Bedeutung nur schwerlich einen zweiten, der es mit diesem aufnehmen könnte: Die Straße von Gibraltar! Mit dem „berühmtesten Felsen der Welt“, als „Lebensader eines Meeres“, das „Ende der Welt“ oder ganz entgegengesetzt das „Tor zu einer Neuen“, Attribute zur Bedeutung dieses Ortes gibt es viele. Von West nach Ost kommend ist es das Tor zu einer der faszinierendsten Regionen der Welt, der mediterranen, aus der nahezu alles kommt, was unsere heutige Zeit prägt: Hochzivilisationen, die ersten polis (Städte bzw. Stadtstaaten), daraus resultierend die Politik als Ausdruck der Notwendigkeit ihrer Verwaltung, die Demokratie als Herrschaft des Volkes, das Recht (bis heute plagen sich Jurastudenten mit dem römisches Recht herum, denn Rechtsordnungen, die ab dem Mittelalter und der frühen Neuzeit auf dem europäischen Kontinent galten, können bis heute so bezeichnet werden), die Wissenschaften, die Technik (wussten Sie, dass der erste Computer der Welt, der Mechanismus von Antikythera, 200 Jahre vor Christus von Griechen gebaut wurde?), Philosophie, Astronomie, Kunst und vieles mehr. Zur damaligen Zeit lauerte hinter dem Tor von Gibraltar aus dem Mittelmeer kommend eine geheimnisvolle, weite, vor allen Dingen unbekannte Welt, welche die Griechen okeanos nannten. Hierum ranken sich uralte Legenden, die zu den ältesten und faszinierendsten zählen, die man sich über die Meere nur erzählen kann. Helden, Titanen und Götter hatten dabei ihre Finger im Spiel.


So fuhr zum Beispiel eines Tages Herakles (= Der sich durch Hera Ruhm erwarb), einer der größten Helden der alten Griechen, Sohn des Zeus und Schützling der Athene, als einer der ersten gen Westen bis an dieses Ende der damaligen Welt. Sich der Meerenge von Gibraltar nähernd erblickte er auf der südlichen Seite den 851 Meter hohen Berg Jebel Musa im heutigen Marokko. Auf der anderen Seite ragte ein halb so hoher, aber umso markanterer monolithischer Kalksteinfels in die Höhe, den wir heute den Felsen von Gibraltar nennen. Im mythologischen Zeitalter der Helden und Götter war es naheliegend in diesen Bergen Säulen zu sehen und so werden sie bis heute die „Die Säulen des Herakles“ genannt.



Unser Held war aber nicht aus bloßem Vergnügen dort unterwegs, sondern hatte aus Buße zwölf geradezu unmögliche Aufgaben zu erfüllen. Die elfte davon war es die goldenen Äpfel der Hesperiden zu stehlen, die vom Drachen Ladon streng bewacht wurden. Nicht irgendein Drache, nicht siebenköpfig, auch nicht zwölf ..., nein Ladon hatte gleich 100 davon! Es gab auch allerhand zu bewachen für sie, den wunderschönen Garten der Hesperiden mit einem Wunderbaum, der die goldenen Äpfel trug. Den Baum ließ einst Gaia der Hera zu ihrer Hochzeit mit Zeus wachsen. Diese Äpfel waren es, die den Göttern ewige Jugend verliehen. Herakles musste sich etwas Besonderes einfallen lassen um sie stehlen zu können, und erinnerte sich des Vaters der Hesperiden, den Titanen Atlas. Dieser war ein Enkel von Gaia und Uranus und hatte im wahrsten Sinn des Wortes ein schweres Los zu tragen: Der einstige König von Atlantis, das später ohne ihn im Meer untergehen sollte, wollte im Kampf der Titanen gegen die Götter mit seinem Gefolge den Himmel stürmen. Doch blieb er erfolglos, und während die anderen Titanen im Tartaros landeten, wurde Atlas dazu verdammt das Himmelsgewölbe am äußersten Rand der Welt an der Grenze zwischen Nacht und Chaos auf seinen Schultern zu tragen.


Nun kam aber der schlaue Herakles ins Spiel: Er bot Atlas an, die Erde für ihn zu tragen, wenn er dafür als Gegenleistung die Äpfel von seinen Töchtern bekommen würde. Da der Titan von der schweren Last schon ziemlich zermürbt war, erklärte er sich einverstanden. Als nun Atlas mit den Äpfeln aus dem Garten seiner Töchter zurückgekehrte, äußerte Herakles den Wunsch sich kurz ein Kissen für seine schmerzenden Schultern holen zu dürfen, auf denen ja neuerlich das Himmelsgewölbe schwer lastete. Der naive Atlas übernahm „kurz“ – und im selben Moment machte sich der schlaue Herakles mitsamt den Äpfeln aus dem Staub ... Wahrlich kein Glückspilz, dieser Atlas! Denn später rächte sich auch noch der Held Perseus an ihm und hielt ihm den abgeschnittenen Kopf der Medusa vor die Nase, deren Blick bekanntlich augenblicklich zur Versteinerung des Opfers führte. Noch heute steht der Titan als Atlasgebirge an jener Stelle.


Sind diese Geschichten nicht etwas Unübertreffliches? Wie würden Sie dazu sagen? Non plus ultra vielleicht? Wenn ja, dann freut es mich besonders. Denn genau zu dieser Einsicht wollte ich gelangen. Nicht zufällig nenne ich dieses Kapitel so. Neben all seinen Heldentaten und Listigkeiten hatte Herakles nämlich an den nach ihm genannten Säulen einen Schriftzug mit folgender kluger Botschaft angebracht: „Nicht darüber hinaus“ oder „Nicht mehr weiter“, und damit sozusagen die Weltsicht seiner Zeit wiedergeben. In der latinisierten Überlieferung der Geschichte hieß es dann non plus ultra. Bereits beim griechischen Dichter Pindar (ca. 520 – nach 446 v. Chr.) findet sich ein früher Hinweis auf diesen Spruch, denn seit den seefahrenden Phöniziern war bekannt, wie schwer es ist den Ozean auf der anderen Seite der Säulen des Herakles zu erreichen. In der Meeresenge von Gibraltar strömen an der Wasseroberfläche pro Sekunde über eine Million Kubikmeter Wasser aus dem Atlantischen Ozean ins Mittelmeer. Und außerdem herrschen oft Westwinde vor. Für ein damaliges Segelschiff denkbar ungünstige Bedingungen, gegen den Wind und zusätzlich auch noch gegen diese mächtige Strömung zu fahren. Übrigens haben eifrige Erforscher der Bibel selbst im Buch der Bücher einen Hinweis auf das „Ende des Mittelmeeres“ gefunden: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter. Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.“ (Hiob 38, 11) Auszuschließen ist eine Verbindung zum Spruch des Herakles nicht, denn bereits die Phönizier nannten die Meerenge Säulen von Melkart, und Melkart war ein phönizischer Gott. Die Israeliten die Nachbarn der Phönizier und bereits die alten Griechen nahmen an, dass Herakles mit Melkart identisch ist.



Das Ende der bekannten Welt, hinter dem der unheimliche Okeanos lauerte, der Ausgang des Mittelmeeres zwischen Gibraltar und dem nordafrikanischen Jebel Musa war immer schon ein magischer Ort. Und „Nicht darüber hinaus“ wurde als non plus ultra für „das Allerbeste“ sprichwörtlich. Viele verwenden es, wenige kennen die urmediterrane Geschichte dahinter.


Die Säulen an der engsten Stelle der nur 14 Kilometer breiten und etwa 60 Kilometer langen Meeresstraße – einer der meistbefahrenen überhaupt – stehen immer noch. Kapitäne von mindestens 300 großen Container- und Handelsschiffen sehen sie täglich, von jenen unzähligen kleineren Schiffe und Boote ganz zu schweigen. Um die nördliche Säule streiten sich immer noch die einstigen maritimen Großmächte Spanien und Großbritannien. Und wenn wir uns das Stadtwappen der spanischen Exklave Melilla und das Staatswappen Spaniens ansehen, begegnen uns die altbekannten Säulen wieder. Zwischen ihnen ist im spanischen Staatsymbol ein Band aufgespannt. Und auf diesem steht plus ultra. Was ist denn passiert? Das non ist irgendwohin verschwunden!


Einer der Großen der Geschichte war dafür verantwortlich, Karl V. (1500 – 1558), Angehöriger des Herrscherhauses Habsburg, ab 1516 als Carlos I. König von Spanien, später auch noch vom Papst zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Ihm wird der Spruch „In meinem Reich geht die Sonne niemals unter“ zugeschrieben. Kurz davor wurde der amerikanische Kontinent entdeckt, und die transatlantische Bereicherung auf Kosten der neuweltlichen Kulturen lief durch Raub, Mord und Genozid auf Hochtouren. Längst galt der Spruch von Herakles „bis hierher und nicht weiter“ nicht mehr. Die Devise lautete vielmehr „uns gehört die Welt“, die universale Herrschaft, wir haben den okeanos der Alten besiegt. Das plus ultra ohne das vielsagende non wurde ein demonstratives Signal der Macht im Wappen des spanischen Königs: Kaiser Karl V. als Weltenherrscher, für dessen Macht und Eroberungslust es keine Grenzen gab. Die Weltsicht des Herakles war ein für alle Mal abgelegt!


Was diese Meerenge nur alles an Geschichten erzählen kann! Der Felsen auf der europäischen Seite, Gibraltar, ist heute ein Naturschutzgebiet mit 250 Berberaffen, den einzigen Affen Europas. So lange sie den Felsen bewohnen, wird die britische Herrschaft über ihn andauern, besagt eine Legende. Und die Säulen des Herakles werden für immer eine Allegorie bleiben, so wie sie es seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden und wahrscheinlich noch länger bereits sind. „Viele werden hindurchfahren und die Erkenntnisse der Wissenschaft werden sich vermehren“, schrieb der Renaissancephilosoph Francis Bacon (1561 – 1626), um die Säulen als Symbol für das bewusste Durchbrechen der Wissensgrenzen von der Antike bis über das Mittelalter und in die Neuzeit zu verwenden.



Ein Graf, der zum Vater der modernen Ozeanographie wurde


Die Straße von Gibraltar könnte unzählige weitere spannende Geschichten erzählen. Beispielsweise diese: Die bereits erwähnten Phönizier waren die allerbesten Seefahrer ihre Zeit. Die Schiffe – etwa jene der Karthager – waren nicht wesentlich schlechter als die, die Kolumbus benutzt hatte, und auch die Wetter- und Seebedingungen dürften weitgehend dieselben gewesen sein. Warum also keine großen Seereisen unternehmen? Die Phönizier kolonisierten nicht nur den Mittelmeerraum von Zypern über Sizilien bis Spanien, sondern auch Teile der andalusischen, portugiesischen und nordafrikanischen Atlantikküste. Unter Hanno dem Seefahrer (vor 480 – ca. 440 v. Chr.) durchfuhren sie von Karthago aus die Straße von Gibraltar und reisten bis zum Golf von Guinea. Kein non plus ultra also. Keine Angst vor dem endlosen okeanos. Möglicherweise erreichten sie auch die Azoren oder sogar (natürlich, vorerst eine noch recht umstrittene These) Amerika. Doch entscheidend ist die Frage, wie sie die Straße von Gibraltar gegen Westen überhaupt überwinden konnten. Denn unvorstellbare Wassermengen strömen von Atlantik in das Mittelmeerbecken, um den Wasserverlust durch Verdunstung auszugleichen. Ohne diese Lebensader würde das Mittelmeer jedes Jahr fast einen Meter Wasser verlieren und sogar ganz austrocknen, wie es vor fünf bis sechs Millionen Jahren bereits geschehen ist (siehe nächstes Unterkapitel). Den Westwind, der bei Gibraltar etwa an der Hälfte aller Tage im Jahr gegen jedes Segelschiff bläst, haben wir auch schon erwähnt. Wie also konnten die Phönizier die Meerenge überwinden?


Die Antwort darauf hat womöglich viel später eine äußerst bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit geliefert, der aus einer Adelsfamilie in Bologna stammende Luigi Ferdinando Conte di Marsigli (1658 – 1730). Wahrscheinlich können wir gerade ihn als „ersten (physikalisch denkenden) Ozeanographen“ im modernen Sinn des Wortes bezeichnen, der mit Experimenten und Messungen arbeitete und nach den Ursachen von Phänomenen forschte. Seiner Zeit um mindestens 100 oder 150 Jahre voraus versuchte er das Meer in seiner Gesamtheit zu erfassen.


1681 veröffentlichte Marsigli in Rom seine Beobachtungen über die Strömungsverhältnisse im Bosporus. Mit Hilfe eines in die Tiefe hinab gelassenen Seils mit einem Strömungsmesser, bewies er die Existenz einer Tiefenströmung aus dem Mittelmeer ins Schwarze Meer, die den Fischern vor Ort damals schon bekannt war. Marsigli ging aber noch einen Schritt weiter und suchte nach einer Erklärung für dieses Phänomen. Durch ein Experiment mit zwei Becken, die durch zwei übereinanderliegende Öffnungen verbunden waren, ermittelte er als Ursache der Strömung Dichteunterschiede, die zwischen zwei Wasserkörpern mit unterschiedlichen Salzgehalten oder Temperaturen, herrschen.



Das weniger dichte, leichtere Wasser floss durch die obere Öffnung in das eine Gefäß, das dichtere und damit schwerere Wasser durch die untere Öffnung in die entgegengesetzte Richtung. Marsigli erkannte korrekt die Ursachen jenes Phänomens, das in der modernen Ozeanographie als thermohaline Konvektion (Umwälzung von Wassermassen als Folge unterschiedlicher Dichten) eine entscheidende Rolle spielt.


Marsigli entdecke etwas Grundsätzliches: Nicht nur am Bosporus fließt das Wasser aus dem weniger salzhaltigem Becken in das salzhaltigere, sondern in jeder Meerenge mit einer Schwelle, die zwei unterschiedliche Meeresbecken verbindet. Also auch in der Straße von Gibraltar, in Bab el Mandeb (Verbindung des Roten Meeres zum Golf von Aden) und in allen anderen. Das schwere, salzhaltige Wasser strömt aus einem Becken hinaus, das leichtere, weniger salzhaltige an der Oberfläche in die entgegengesetzte Richtung. Das ist ein physikalisches Naturgesetz, das auf Dichte basiert – es kann nicht anders sein.


Und das sollen die Phönozier am Gibraltar irgendwie herausgefunden haben. Die Überlieferung besagt, sie hätten auf langen Tauen segelartige Treibanker so tief in die Fluten hinunter gelassen, bis sie auf das aus dem Mittelmeer ausströmende Wasser gestoßen sind. Dieses hätte sie trotz Gegenströmung und -wind bequem in den Atlantik hinausgezogen. Seit Jahrhunderten wird diese Geschichte immer weiter gegeben, doch wo ihre ursprüngliche Quelle liegt, konnte ich bisher nicht herausfinden.




Kann denn ein ganzes Meer austrocknen?

Im Jahr 1833 sind Sir Charles Lyell (1797 – 1875), der zu den bedeutendsten Geologen des 19. Jahrhunderts gehörte, aufgrund von paläontologischen Befunden dramatische faunistische Veränderungen im „Urmittelmeer“ aufgefallen. Seine ursprüngliche Lebensgemeinschaft war eine Mischfauna aus dem Atlantischen und dem Indischen Ozean. Zur Zeit einer nun erkannten „biologischen Revolution“ verließ die Mehrheit der Arten das Mittelmeer in Richtung Atlantik oder starb aufgrund des steigenden Salzgehalts aus. Damit nahm Lyell das vorweg, was gut hundert Jahre später als „Messinische Salinitätskrise“ bekannt werden sollte, die Austrocknungstheorie des Mittelmeeres vor 5 – 6 Mio Jahren.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Charles Mayer-Eymar im Jahr 1867 den Namen „Messinian“ einführte. Er leitet sich von besonderen marinen Ablagerungen hohen Salzgehalts nahe der sizilianischen Stadt Messina an der gleichnamigen Meeresstraße ab. Der Name „Messinian“ sollte später im Begriff „Messinische Salinitätskrise“ besondere Bedeutung für die Erforschung der Naturgeschichte des Mittelmeeres erlangen. Die mediterrane Fauna der letzten fünf Millionen Jahre sollte nach der Krise weitgehend atlantisch werden, mit Ausnahme einiger Paläoendemiten, die die Austrocknung des Beckens überstanden haben. Ein solcher Paläoendemit ist das bekannteste Seegras des Mittelmeeres, das Neptungras Posidonia oceanica, dessen nächsten Verwandten rund um Australien leben, während die Gattung im Atlantik nicht vertreten ist.




Das erste Eden

Für mich ist der Raum, dessen Tor im Westen die Straße von Gibraltar bildet, der faszinierendste der Welt. Einen prominenten Unterstützer für meine These und ebenfalls Bewunderer des Mediterrans fand ich in Sir David Attenborough und seinem Buch „Das erste Eden“: „Diese Landschaften versteht man nur im Licht ihrer Vergangenheit. Schließlich handelt es sich bei ihnen um die ältesten Kulturlandschaften der Welt, das erste Eden. Tatsächlich hat der Mensch nirgendwo stärker auf seine Umwelt eingewirkt oder kontinuierlichere, detailliertere und reichlichere Spuren seines Tuns und Treibens hinterlassen.“


Nirgendwo sonst ist der kontinuierliche und massive Einfluss von Menschen und ihren Zivilisationen stärker als gerade hier. Eigentlich ist hier alles, was wir sehen, Natur aus zweiter Hand. Längst degradiert, oft schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden. Die einstigen mediterranen Wälder sind größtenteils verschwunden, ersetzt durch die stachelige und dornige Ersatzvegetation der Macchie oder der noch niedrigeren Garrigue. Schafe und Ziegen haben hier Jahrtausende lang alles abgegrast und wurden zu Gärtnern der mediterranen Landschaft. Oft blieben nur verkarstete, erodiert Felsen zurück, wie man es in Dalmatien sieht (die Winnetou-Landschaft).


Und doch lieben so viele von uns den mediterranen Raum. Die Luft duftet am Mittelmeer anders und die Häuser leuchten in bunten oder auch verblassten Farben. Der von den Wänden bröckelnde Verputz, der zuhause schon längst einen unordentlichen Eindruck machen und unseren Missmut erwecken würde, wird geradezu erwartet und wohlwollend als Teil des lieblichen Gesamtbildes wahrgenommen. Wer sich in den nördlicheren Gegenden Europas vergisst und zu laut auf die andere Straßenseite ruft, wird durch strenge Blicke der Mitbürger bestraft. Was wäre aber die italienische Kleinstadt mit engen Gassen ohne sich schreiend unterhaltende Nachbarn, die sich von einem Fenster zum gegenüber liegenden laut Belanglosigkeiten zurufen?


Beeindruckt uns die schwer überschaubare, bunte Vielfalt des Mediterrans mit seinen vielen Gesichtern? Welcher der Begriffe, die harmonisch zu einem Kaleidoskop zusammengefügt den Mediterran ergeben, ist für den Mittelmeerraum wesentlicher als der andere und wäre der Wichtigkeit nach noch vor einem anderen zu reihen: die Geschichte und Kunst, die Architektur, der Schiffs- und Bootsbau, Küstenstädtchen und Häfen, in denen Fischernetze in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet sind, die Landschaft, die Küsten, die Gerüche der Macchia, das Licht, die Salinen, das Olivenöl, der Fisch- und Tanggeruch, die Lebensart und das Lebensgefühl, die Korallen- und Schwammfischer, Fischmärkte, die Rufe der Möwen, versunkene Schiffe, antike Ruinen und Amphoren, die Schifffahrt mit Fähren, Kreuzfahrten und Jachthäfen, in denen es sich der Geldadel gutgehen lässt, die Menschen, das Meer an sich … Man fürchtet bei solchen Auflistungen, ohnehin zur Unvollständigkeit verurteilt, dass man ausgerechnet das Wesentliche übersieht.



In den letzten 10.000 Jahren entwickelte sich jenseits des östlichen und südlichen Ufers des Mittelmeeres in einem Gebiet, dass im Niltal begann und sich in einem weiten Bogen nach Norden, später Osten und schließlich nach Süden erstreckte, alles, was wir Zivilisation nennen. Selbst der biblische Garten Eden war irgendwo hier angesiedelt, wo die Flüsse Tigris und Euphrat fließen. Zur gleichen Zeit, als am Nil in Ägypten die erste Hochkultur aufblühte, brachte die Insel Kreta im östlichen Mittelmeerraum mit der minoischen Kultur schon vor 4.500 Jahren die früheste europäische Hochkultur hervor. Diese ging zwar in Folge eines gigantischen Vulkanausbruchs und Tsunamis zugrunde, doch kamen später die Phönizier, die Griechen, die Römer. Unter ihnen wurde der gesamte Mittelmeerraum sowie große Gebiete Europas, das asiatische Ufer und Teile Nordafrikas zu einem einzigen Staatsgebilde vereinigt. Die pax romana, der römische Frieden dauerten an die 300 Jahre an, und 400.000 Kilometer Straßen sowie ein reger Schiffsverkehr über das Mittelmeer verbanden die verschiedenen Provinzen des Riesenreichs. Der Handel blühte im Römischen Reich genauso wie die Kunst, das Handwerk, die Technik, die Wissenschaften und die Kultur. Eine Lebensqualität wie damals sollte in Europa und Nordafrika erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden.


Auch nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs und den Turbulenzen der Völkerwanderung bleibt das Mittelmeer und die mediterrane Welt dort wo sie hingehören: Im Mittelpunkt der Welt. Ab 700 n. Chr. begannen Sarazenen von der arabischen Halbinsel ihre Macht im Mittelmeerraum zu festigen. Sie widmeten sich der ... Piraterie. Doch wo es Piraten gibt, muss es auch etwas zu holen geben. Ja, die nächsten wirtschaftlichen und kulturellen Hochblüten kündigten sich an. Ab dieser Zeit drangen immer mehr Araber und nordafrikanische Berber unter Führung der Umayyaden-Kalifen bei Gibraltar auf die Iberischen Halbinsel ein und auch weiter nach Europa. Für Jahrhunderte sollte in diesem Teil der Mittelmeerregion eine Kultur entstehen, die der europäischen weit voraus war. Das legendäre Al-Andalus, ein Zentrum der Gelehrsamkeit, blieb bis 1492 unter muslimischer Herrschaft. Das Kalifat von Córdoba wurde ein führendes kulturelles und wirtschaftliches Zentrum sowohl des Mittelmeerraums als auch der islamischen Welt. Was besonders sympathisch ist und unsere Sicht auf den Islam ein wenig objektiver beeinflussen sollte: Nichtmuslime einer der Schriftreligionen (Juden und Christen) hatten nichts zu befürchten. Nach dem islamischem Recht galten sie als „Dhimma“, Schutzbefohlene. Wie sich nur die Zeiten ändern.


Doch nicht überall standen die Christen den Moslems nach: Bereits zur gleichen Zeit, ab dem siebten und achten Jahrhundert, stieg die Serenissima Repubblica di San Marco, die Republik Venedig mit dem Markuslöwen als Wahrzeichen der Stadt, zu einer See- und Wirtschaftsmacht der Mittelmeerregion auf. Von der Nordadria aus beherrschte Venedig Oberitalien, Dalmatien, größtenteils den Raum bis Kreta und zeitweise bis nach Zypern und sogar zur Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. Die Kaufmannskolonien im Zeichen des Markuslöwen fanden sich auch in Konstantinopel, in Akkon, Alexandria und dem Maghreb. Die Adria wurde schlicht in Bucht von Venedig umgetauft.


Etwas später als Venedig aber ebenso mächtig wurde die Serenissima Repubblica di Genova, Adelsrepublik Genua am nördlichsten Zipfel des Ligurischen Meeres. Die Genuesen belebten den Sklavenhandel der römischen Wirtschaftswelt neu und erzielten damit sagenhafte Gewinne, doch auch mit Getreide, Gewürzen, Fisch und Kaviar, Salz, Nüssen, Pelzen und Wachs.


Wirtschaftlicher Aufschwung ging immer mit dem Niedergang der Natur einher. Die Jahrhunderte alten, stolzen, knorrigen Eichen des mediterranen Edens fielen der Gier der Menschen zum Opfer. Manches davon fand bereits durch die dekadente Lebensweise der Römer ein Ende: Ihre Thermen mussten mit Holz oder Holzkohle aus Eichenholz beheizt werden. Eine rege Bautätigkeit geht immer mit einem Aufschwung einher, doch vor allem der Krieg vernichtete große Teile des mediterranen Waldes. Unzählige Schiffe wurden gebaut, fast genauso viele wieder versenkt.


Das erste Eden florierte, doch dann kam ein besonderer Tag, der medi terra, die Mitte der Erde, aus der Mitte rückte.




Niedergang des Mittelmeeres und Atlantisierung der Welt


Es war der 12. Oktober 1492, als Christoph Kolumbus mit der Entdeckung der Karibik die kontinuierliche Erkundung und anschließend Kolonisierung des neuen Kontinents einleitete. Die Interessen der Mächtigen verschoben sich in diese Richtung. 1507 hat der Italiener Amerigo Vespucci das Land als eigenen Kontinent erkannt, den Martin Waldseemüller kurz darauf nach Vespucci America benannt hat. Ob wir das mit der „Entdeckung Amerikas“ so gelten lassen sollen, ist jedoch fraglich. Bereits 500 Jahre davor betraten Wikinger unter Leif Eriksson amerikanischen Boden. Immer mehr Hinweise sprechen dafür, dass es mehrere „Eroberungen“ des Kontinents gegeben hat.


Das Mittelmeer mit seiner Gesamtfläche von ungefähr 2,51 Millionen Quadratkilometern verfiel an diesem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte in einen Dornröschenschlaf. So sollte es mehrere Jahrhunderte bleiben. Bis 1869, als einer der wichtigsten Schifffahrtswege der Erde eröffnet wurde, der 162 Kilometer lange Suezkanal zwischen dem Mittelländischen Meer im Norden und dem Roten Meer im Süden. Er verkürzte den Seewege von London nach Indien um mehr als 40 Prozent, von Neapel nach Eritrea sogar um 80 Prozent. Vicomte Ferdinand de Lesseps (1805 – 1894), der Erbauer des Suezkanals und der Mann, der Afrika „zur Insel machte“, leitete eine wahre Revolution im Verkehr und Handel ein, der die atlantische Welt über das Mittelmeer als Korridor mit dem Roten Meer und damit dem Indischen Ozean verband. Was in der damaligen Welt Rang und Namen hatte, kam in Suez zusammen. Ein historisches Weltereignis. Das Mittelmeer kehrte wieder auf die Weltbühne zurück und erlangte etwas von seinem alten Glanz. Nach mehrmaligen Erweiterungen und Vertiefungen können bis zu 270.000 Tonnen schwere Ozeanriesen den Kanal befahren.


Die Lesseps’sche Migration – das größte biogeographische Experiment der Gegenwart


Die Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 hatte in zoogeographischer und ökologischer Hinsicht weitaus gravierendere Folgen, als dies jemals von den Erbauern bedacht worden war, die lediglich eine vorteilhafte Handelsroute zwischen Europa und Südostasien schaffen wollten. Denn mit dem Roten Meer und dem Mittelmeer verbindet der Suezkanal zwei in vielfacher Hinsicht grundverschiedene Gewässer, die zwei unterschiedlichen biogeographischen Regionen angehören. Auf der einen Seite steht der extrem artenreiche tropische Indopazifik, dessen Nebenmeer das Rote Meer ist, auf der anderen der warm gemäßigte Atlantik mit einer komplett anderen Fauna und Flora.


Am Anfang fungierten die so genannten Bitterseen, die in den Suezkanal integriert wurden, als eine Art ökologischer Filter. Doch mit den Jahrzehnten begannen immer mehr tropische Bewohner des Korallenmeeres ins Mittelmeer einzuwandern. Zu Ehren des Erbauers des Kanals erhielt diese bemerkenswerte Wanderung den Namen Lesseps’sche Migration. Mindestens 500 Arten fühlen sich zwischenzeitlich vor allem im östlichen Mittelmeerraum heimisch. Der Klimawandel und die steigende Temperatur des Mediterrans tragen dazu bei, dass ursprüngliche, aus dem Atlantik stammende Faunenelemente verschwinden, tropische aus dem Roten Meer sich hingegen immer wohler fühlen. Längst zeugt jeder Tauchgang an der israelischen Küsten, auf Zypern oder im Süden Kretas von dieser größten biogeographischen Veränderung der Gegenwart. Meerbrassen sieht man kaum noch, dafür die exotischen Kaninchenfische, die stellenweise den gesamten Algenbewuchs abweiden. Und mit ihnen Soldaten-, Rotfeuer-, Flöten- und Kugelfische, Schwarzspitzen-Riffhaie und jede Menge weitere, die sich seit der Austrocknung des Mittelmeeres vor Millionen Jahren nicht mehr im mediterranen Becken fanden. Bemerkenswert ist, dass die Wanderung nur von Süd nach Nord derartig massiv ist. So genannte „Anti-Lesseps’sche Migranten“ sind rar.

Auch in der Zeit der Krise ein Ort der Träume


Wirtschaftliche Krise hin, Niedergang der einstigen Bedeutung her, in allen Zeiten blieb der Mittelmeerraum für Menschen nördlich der Alpen der Garten Eden, ein Sehnsuchtsort ohnegleichen, die Projektionsfläche für gebündelte Träume vom verlorenen Paradies. Als der mediterrane Raum den tiefsten Dornröschenschlaf schlief, erwachte die Sehnsucht junger Menschen – natürlich waren es zu jener Zeit vor allem Männer – um auf ihre Grand Tour, eine Kavaliersreise aufzubrechen. Und diese führte fast immer in den Süden, in die Ewige Stadt Rom oder ins Heilige Land, auf jeden Fall irgendwohin ans Mittelmeer. Welches Zeitalter wäre besser dazu geeignet den Wunsch zu schüren alles selbst zu entdecken als die Zeit der Aufklärung? Bereits im 17. Jahrhundert machten sich die ersten Sprösslinge von Adeligen zu ihrer Großen Reise auf, um die Welt zu entdecken, Lebenserfahrung zu sammeln und sich so nebenbei auch erotisch fortzubilden. Von ihren Reisen brachten sie Notizen und Skizzen mit, die später in Buchform veröffentlicht wurden, und da wir uns vom Ende des 18. Jahrhunderts bereits in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik befinden, fallen diese Berichte wenig überraschend romantisch aus, während die in ihnen enthaltenen Stiche nur noch mehr die mediterranen Sehnsüchte schüren. Das ganze 19. Jahrhundert über dauerte die Romantik an, in dieser Zeit großer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche. Schwarzer Ruß stieg aus den Schloten der Fabriken, die Maschinen ratterten laut und den Proletarier beutet der Kapitalist bis aufs Äußerste aus. Die Industrialisierung führte zum Wohlstand einiger, und wer von ihnen nur irgendwie konnte, fuhr an das Mittelmeer. Sich vom Lärm der Großstadt in die mediterrane Idylle zurückziehen, wurde zur Devise, und das waren die Anfänge des Tourismus am Mittelmeer.


Verschiedene gesellschaftliche Trends verstärkten diesen Effekt. Die Sturm und Drang-Zeit prägte im deutschen Sprachraum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das literarische Geschehen, ein Gegenpol zu den damals populären Schauerromanen. Johann Wolfgang Goethes Italienische Reise drückt es besser aus als alles andere: „Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch“, schrieb der Dichter über diese schöne Stadt am Fuße des Vesuv. Nicht weniger begeisterte er sich für Venedig: „So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich ... Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. So ist denn auch, Gott sei Dank, Venedig mir kein bloßes Wort mehr, kein hohler Name, der mich so oft, mich, den Todfeind von Wortschällen, geängstiget hat“. Und viele Jahre nach der Rückkehr von der italienischen Reise bekannte Goethe, er könne sagen, nur in Rom habe er empfunden, „was eigentlich ein Mensch sei ... Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.“



Nur ja nicht erwachsen werden ...

Unter Einfluss von Goethes Liebesbekenntnissen und vielen ähnlichen und der unwiderstehlichen romantischen Stiche, die sich in den alten Büchern finden, möchte man am Traum vom Ersten Eden festhalten. Das geht dann am besten, wenn man im Rahmen des Erwachsenwerdens nicht alle Träume und Illusionen einem kühlen Pragmatismus opfert. Oft wird mit Erleichterung festgehalten, dass Söhne, Töchter oder die Kinder der Nachbarn die schwierige Zeit der Pubertät ohne gröbere Schäden überstanden haben. Seltener nehmen wir jenen Verlust wahr, der – ob man es will oder nicht – fast immer mit dem Übergang zum Erwachsenenleben einhergeht. Kinder sind mit Fähigkeiten gesegnet, die den Erwachsenen in der modernen Welt größtenteils abhanden gekommen sind.


Die Augen der Kinder sehen und ihre Ohren hören wunderbare Dinge. Sie dürfen träumen, ein Privileg, das in der Zeit des Erwachens der mediterranen Kultur nicht nur Kindern geschenkt war. Damals hatte das Reich der Wirklichkeit und Fantasie keine so strengen Grenzen wie heute. Götter und Menschen, Engel und Steine, Bäume und Berge, Tiere und Pflanzen, Menschliches und Übermenschliches, Leben und Tod, das Meer – all das hatte etwas gemein, all das war beseelt und von Göttern und geheimnisvollen Wesen bewohnt und kaum durch irgendwelche Barrieren getrennt.


Als die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, konnten sogar Naturforscher ein wenig blicken und fühlen wie Kinder, voller Bescheidenheit, Neugier und Respekt, voller Angst vor dem Furcht erregenden Meer. In den letzten hundert Jahren ist diese für vieles offene Betrachtungsweise endgültig dem modernen, nüchternen und wissenschaftlichen Denken zum Opfer gefallen. Lediglich Dichter, Maler, (Lebens-)Künstler und Träumer haben sich etwas vom unschuldigen Blick der Kinder und der Alten bewahrt.


„Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit, des Nichts und des Todes, ein metaphysischer Traum“, schrieb Thomas Mann. Wenn man seinen Ausspruch mit Aussagen anderer Denker vergleicht, merkt man, wie sehr sich die Faszination des Meeres einer allgemein gültigen Definition entzieht. Jeder schreibt über ein und dieselbe Sache etwas anderes.


Wohl ist dieser „metaphysische Traum“ zu unermesslich, um in einige Sätze eingesperrt zu werden. Er entgleitet jeder vereinfachten Beschreibung. So rätselte Charles Baudelaire in seinen Tagebüchern: „Warum gewährt der Anblick des Meeres ein so unendliches und ewiges Entzücken? Weil das Meer gleichzeitig die Vorstellung der Unermesslichkeit und der Bewegung erweckt.“ So oder so, „... am Mediterran altert der Körper schneller als der Geist“, war der Sorbonne-Professor und Literat mit kroatischen Wurzeln Predrag Matvejević überzeugt. Sich mit all den Geheimnissen von non plus ultra zu beschäftigen gleicht einem Jungbrunnen für unseren Geist.


„Trenne dich nicht von deinen Illusionen“, schrieb auch Mark Twain (1835 – 1910). „Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.“ Der berühmte amerikanische Journalist und Schriftsteller unternahm eine „Reise durch die Alte Welt“, wie er später auch sein Buch taufte. Nachdem die fröhliche Reiserunde mit dem Dampfer den Atlantik überquert hatte wurde es eine rein mediterrane Reise, wie man sie heute nicht besser und schöner erfinden könnte. Mark Twain war von mächtiger Vorfreude erfüllt: „… sollten die Teilnehmer auf einem großen Dampfer mit wehenden Flaggen absegeln und einen fürstlichen Urlaub jenseits des breiten Ozeans verbringen … in manchem fremden Himmelsstrich und in manchem namhaften Land der Geschichte! Sie sollten monatelang über … das sonnige Mittelmeer fahren …, an der Reling nach der Qualle, dem Nautilus, dem Haifisch, dem Wal und anderen seltsamen Ungeheuern der Tiefe Ausschau halten …, sie sollten sich Schiffe von zwanzig Nationen ansehen, die Bräuche und Trachten von zwanzig merkwürdigen Völkern, die großen Städte der halben Welt …“. Twains Buch widerspiegelt sein satirisch-humoristisches Talent, zugleich amüsiert es den Leser aus der Alten Welt. Es ist der Blick eines typischen Yankees – so bezeichnete sich Mark Twain selbst. Wie lange war es her, dass seine Vorfahren aus der Alten in die Neue Welt gekommen waren: dreißig, siebzig oder gar hundert Jahre? Was sind aber hundert Jahre? Der Amerikaner denkt manchmal mit einem Selbstverständnis, als ob es seine Welt wäre, die schon seit Jahrtausenden unverändert besteht; als ob die Neue Welt den Ursprung aller Dinge beherberge und nicht die Alte rund um das Mittelmeer.

Jeder möchte dazugehören ...

Vielfach blickten mediterrane Menschen auf jene herab, die nicht mehr dazugehörten, aber zugleich handelt es sich um eine mehr als ambivalente Hassliebe, denn ohne die Gäste gibt es auch keinen Verdienst. Die Geldbörse der Touristen ist am Mittelmeer zum Maß aller Dinge geworden ist. Für viele Menschen auf den Inseln und an den Küsten des Mittelmeers hört mit den letzten Touristen im Oktober das Geldverdienen auf und beginnt erst wieder mit den ersten Besuchern im Frühjahr. Mit dem Geldverdienen hört aber wiederum für sechs oder sieben Monate das Privatleben auf, die Intimität verlassener Strände verschwindet, das der Landschaften, Städtchen und Lokale. An ihre Stelle treten ebenso lebenswichtige wie lästige Massen von Touristen, die den letzten Hauch von Romantik niederwalzen.


Der Romanautorin Donna Leon (die bloß zugereiste Mittelmeerbewohnerin ist) ist es gelungen, dem Abscheu der Venezianer vor den Massen der Touristen durch die Figur ihres sympathischen Commissarios Guido Brunetti eine Stimme zu verleihen. Stets ist er darauf aus die Mörder zu entlarven, irgendwo auf dem Weg ein Gläschen Wein zu trinken und den endlosen Menschenschlangen in den Calle auszuweichen, während er zur Questura eilt, oder, noch lieber, nach Hause, wo er dank Paolas Kochkünste in den siebten kulinarischen Himmel gehoben wird. Dieses Ambiente, zu dem die lästigen Touristen zählen, nutzt die Krimiautorin erfolgreich aus.

Braudel versus Abulafia: Wo beginnt der Mediterran

Wenn es um ein Gesamtverständnis der mediterranen Region ging, war vor gut 25 oder 30 Jahren der große französische Historiker Fernand Braudel noch so etwas wie der Papst der Mittelmeerforscher. Es war unmöglich über dieses Meer und das Land rund herum zu schreiben und seine Bücher dabei außer Acht zu lassen. Daran wird sich zwar auch künftig nichts ändern, denn Braudels Werke werden unsterblich bleiben. Doch geht auch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft weiter. Jüngere Genies seines Genres sind auf den Plan getreten und haben neue, erweiterte oder überarbeitete Konzepte vorgelegt. David Abulafia ist mit seinem Werk „Das Mittelmeer – eine Biographie“ das beste Beispiel dafür.


Denn wenn wir für eine Region schwärmen, wollen wir unter anderem herausfinden, wo die Grenzen dieser Region liegen und was sie ausmacht. Ist es 50 Kilometer weiter im Norden, Süden oder in welcher Richtung auch immer nicht mehr „der Mediterran“?


„Tatsächlich dehnte Braudel den Mittelmeerraum weit über das eigentliche Meer hinaus aus, auf all jene Länder, deren Wirtschaftsleben in irgendeiner Weise vom dortigen Geschehen bestimmt wurde. Gelegentlich brachte er es fertig, Krakau und Madeira in seine Überlegungen einzubeziehen ...“, wirft der britische Historiker David Abulafia seinem längst verstorbenen französischen Kollegen Fernand Braudel vor. Es ist ein Auffassungsunterschied zwischen zwei Giganten der Geschichtsschreibung: Während der eine im weitesten Sinn und übertrieben formuliert „fast überall die Mittelmeerregion sieht“, zieht Abulafia eine viel engere Grenze. Auch er betont, „dass es wichtig ist zuerst einmal die Grenzen zu definieren“. In seinem Buch „zieht er die Grenzen des Mittelmeeres dort, wo zunächst die Natur und dann der Mensch sie gesetzt hat: an der Straße von Gibraltar, an den Dardanellen, mit gelegentlichen Ausflügen nach Konstantinopel … und an der Küste, die sich von Alexandria bis nach Gaza und Jaffa erstreckt … Das mag eine engere Sicht des Mittelmeeres sein, als andere Autoren sie vermitteln, aber sie ist zweifellos konsistenter…“


Ich möchte es mir nicht anmaßen, die Auffassungsunterschiede dieser großen Historiker zu kommentieren. Die Pflanzen wissen es offenbar genauso gut wie die Historiker und so richten sich auch viele Definitionsversuche der Mittelmeerregion nach ihnen. Als wichtigster „Grenzzieherbaum“ gilt schon seit Plinius d. Ä. der Echte Olivenbaum oder Ölbaum (Olea europaea) – eine der „mediterransten“ Pflanzen überhaupt; ein anderer ist der Feigenbaum (Ficus carica), der vermutlich aus dem Mittelmeerraum und Kleinasien stammt. Getrocknete süße Feigen – der hohe Zuckergehalt macht sie lange haltbar – oder verschiedene Kuchen aus ihnen begleiten Reisende des Nahen Ostens seit Urzeiten. Und ein dritter wäre zweifellos die Steineiche (Quercus ilex). Steineichenwälder bedeckten einst große Bereiche der mediterranen Region.


Und so muss auch der Liebhaber des Mittelmeeres wachsen und mit der Zeit und der Entwicklung Schritt halten. Alles ändert sich. Noch nie war das Mittelmeer so oft, praktisch täglich, als Schauplatz von Flüchtlingsdramen in den Schlagzeilen. Noch nie war die Angst so groß, dass die „faszinierendste Region der Welt“ ihre noch verbleibenden (Rest)Lebensräume verlieren könnte, weil sich der Mensch immer weiter ausbreitet, weil die globale politische Lage nach dem Abgang der Diktatoren an seinen Ufern außer Kontrolle geriet, weil die ökologische Entwicklung nichts Gutes verheißt.



(c) Text + Fotos: Robert Hofrichter, 2017