Wie Sand am Meer?

Der Beitrag von Sandra Bracun und Robert Hofrichter wurde im folgenden Standardwerk veröffentlicht:

Hofrichter Robert (Ed.), 2020: Das Mittelmeer – Geschichte und Zukunft eines ökologisch sensiblen Raums. Springer Spektrum, Heidelberg, approx. 1,300 pages, ISBN 978-3-662-58929-8

Sandverbrauch in verschiedenen Bereichen des Bauens. Illustration aus Hofrichter (2020).

Der Beitrag soll sachlich informieren und hat keinesfalls die Intention auf die Leserinnen und Leser besserwisserisch und belehrend zu wirken. Der Hintergrund bzw. die Motivation für die Veröffentlichung des Textes auf dieser Webseite war vielmehr: Ich beobachte, dass viele naturverbundene Menschen von ihren Reisen Sand mitnehmen und diesen zu Hause als Erinnerung in kleine Fläschchen füllen – so wie man früher Schnecken, Muscheln und Korallenbruchstücke am Strand als Souvenirs gesammelt hat. Stolz und begeistert zeigen sie dann entsprechende Fotos in sozialen Netzwerken und wundern sich vielleicht über die Missgunst der Community. Immer wieder wird ein „Shitstorm“ ausgelöst, ohne aber die Sache sachlich zu erklären. Auch ich als Meeresbiologe und Meeresschützer habe in jüngeren Jahren alles Mögliche gesammelt und mitgenommen – aus aufrichtiger Liebe zu dieser Materie. Doch die Mitnahme von Sand (so wie selbstverständlich auch von Schnecken, Muscheln und Korallen etc.) wird zwischenzeitlich in vielen Ländern reglementiert oder ist gänzlich verboten. Mancherorts drohen dafür sogar drakonische Strafen. Sind das übertriebene, überzogene Maßnahmen, oder sind sie gerechtfertigt?

Ich hoffe, dass die präsentierte Information für viele hilfreich sein wird – sozusagen bevor die Sandburg weggespült wird. Die Welt ändert sich radikal, die Weltbevölkerung nähert sich der 8 Milliarden-Grenze, wir leben auf großem Fuß und unsere Ansprüche und unser Ressourcenverbrauch steigt ständig (auch der Flächenverbrauch, und gerade für diesen braucht man Unmengen von Sand), die Erde erwärmt sich und Arten sterben aus. Selbst so etwas Triviales wie Sand ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Informationen veröffentliche ich also nicht deswegen, weil es mir Freude macht (lieber würde ich über positive Dinge berichten), oder weil ich gern pessimistische Nachrichten verbreite, sondern weil es die Realität ist. Es wäre irrational die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Und auch wir, einfache Touristen an irgendeinem schönen Strand dieser Welt, müssen uns diesen Tatsachen und Entwicklungen stellen und unser Verhalten anpassen.



Wie Sand am Meer? Es klingt befremdlich, aber der Sand gehört auch zu den „bedrohten Spezies“ … Foto Robert Hofrichter.

Wie Sand am Meer?

Sandra Bracun und Robert Hofrichter

Noch vor 20 Jahren machte sich kaum jemand Sorgen um den Sand. Manche Leser wird es überraschen zu erfahren, dass dieser Rohstoff nicht unbegrenzt zur Verfügung steht. Der Sand am Meer schwindet, er wird verbraucht. Dadurch sind Lebensräume an der Küste und im Meer bedroht. Der Raubbau am Rohstoff Sand gehört zu den großen Umweltproblemen der Gegenwart. Denn nach Luft und Wasser ist Sand die elementarste Substanz der modernen Welt: Zwei Drittel aller neuen Gebäude sind heute aus Stahlbeton. Dazu kommen Aufschüttungen wie die künstlichen Inseln vor Dubai. Mehrere Tausend Schwimmbagger durchkämmen die Meere und holen Millionen Tonnen Sand vom Grund herauf. Dabei werden ganze Lebensräume zerstört. Die Menschheit holt viel mehr Sand aus dem Meer, als die Natur erschaffen und dort wieder in überschaubaren Zeiträumen hinbringen kann. Die Sandbildung ist ein langsamer geologischer Prozess in Größenordnungen von Zehntausenden Jahren. Die rasanten Entwicklungen der Moderne aber spielen sich in Jahrzehnten und sogar einzelnen Jahren ab. Der ökologische Kreis der Nachhaltigkeit hat keine Chance, sich zu schließen.


Dubai: The Palm, The World und andere megalomanische Projekte. Selbst ein Wüstenstaat wie Dubai muss Sand vom Meer importieren. Illustration aus Hofrichter (2020).


Die Sanduhr läuft: Wie die hohe Nachfrage der Bauindustrie ganze Ökosysteme zerstört – am Mittelmeer und weltweit

Bei den vielen sicht- und greifbaren Bedrohungen, die dem Mittelmeer und allen anderen Ökosystemen zusetzen, erscheint es auf den ersten Blick geradezu lächerlich, vom Sand zu sprechen. Denn Sand – ein Inbegriff von Urlaub und Erholung, der Traum eines jeden Touristen – gibt es „wie Sand am Meer“, in ungeheurer Menge, schier endlos viel, wie Sterne am Himmel. Er ist ein scheinbar unerschöpflicher Rohstoff. Geologen haben berechnet, (nur um eine ungefähre Größendimension zu haben) dass weltweit jede Sekunde 1 Mrd. neue Sandkörner entstehen. An den Stränden der Welt sollen 7,5 Trillionen Sandkörner liegen: 7 500 000 000 000 000 000 Partikelchen. Sand erscheint uns nahezu ebenso selbstverständlich und allgegenwärtig wie Luft oder Wasser. Doch Wassermangel gehört zu den allergrößten Problemen der Zukunft. Saubere Luft ist längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Und auch vom Sand wissen wir jetzt, dass es kein endloser Rohstoff ist.

Der Vergleich „wie Sand am Meer“ ist uralt und findet sich bereits in der Bibel. „So schüttete Josef das Getreide auf“, lesen wir im 1. Buch Mose 41,49 (LUT), „über die Maßen viel wie Sand am Meer, sodass er aufhörte zu zählen; denn man konnte es nicht zählen“. An anderer Stelle wird Stammvater Abraham das Versprechen gegeben, sein „Geschlecht zu segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres“ (1. Buch Mose 22,16).

Jetzt versiegt diese scheinbar grenzenlose Rohstoffquelle. Der Sand, der fast so alt ist wie die Erde selbst, wird knapp, stellenweise ist er endgültig weg. Die Grundthese dieses Werkes, eine schlichte ökologische Berechnung, macht deutlich, warum: Weil es zu viele Menschen auf diesem Planeten gibt und weil ihr Lebensstil den Rahmen der naturgegebenen Möglichkeiten sprengt. Die Bauprojekte der modernen Welt erscheinen ebenso größenwahnsinnig wie das berühmte Beispiel aus der Bibel, der Turmbau zu Babel.

Auf das Thema aufmerksam gemacht hat der Filmemacher Denis Delestrac mit seiner vielfach preisgekrönten Dokumentation „Sand Wars“, die 2013 auf ARTE ausgestrahlt wurde. Nur ein Jahr später veröffentlichte UNEP eine Studie zum weltweiten Raubbau an den Sandvorkommen.

Sand ist definiert als natürliches, unverfestigtes Sediment, egal welcher mineralischer Zusammensetzung, mit einer Korngröße von 0,063 – 2 mm. Wie die kommenden Ausführungen zeigen, ist dennoch Sand nicht gleich Sand. Denn der erste Lösungsansatz, an den die meisten Menschen denken würden, nämlich die endlosen Sandreserven der Sahara und anderer Wüsten anzuzapfen, ist keine Lösung. Der Wüstensand ist für den Bau in Verbindung mit Zement, um den es hauptsächlich geht, ungeeignet – darum müssen auch arabische Länder in großen Mengen Sand importieren (etwa Dubai aus Australien). Auch die als Weltwunder deklarierten Projekte wie die „Palme“ von Dubai oder „The World“ konnten nicht aus Wüstensand aufgeschüttet werden.

Die Sandkörner der Wüste sind klein, rund, abgeschliffen und glatt. Zement und Wüstensand verbinden sich nicht ausreichend, sie haften nicht aneinander. Im Bau braucht es Ecken und Kanten, sie sorgen für die nötige Reibung. Nur der begehrte Sand aus Flüssen und dem Meer hat diese Ecken und Kanten, die im Beton (aber auch in Ziegelsteinen und Asphalt) unentbehrlich sind.

Indirekt kann man den Abbau von Sand durch die Produktion von Zement abschätzen. Im Jahr 1994 wurden 1,37 Billionen t Zement hergestellt, 2012 waren es bereits 3,17. Zur Herstellung von Beton benötigt man auf jede Tonne Zement 6 – 7 t Sand. Im Jahr werden 25,9 – 29,6 Billionen t Beton hergestellt, dies entspricht einer Wand von 27 m Höhe und 27 m Breite, die rund um den Äquator verläuft.

Sand ist kein schnell nachwachsender Rohstoff, der mit der Rate des Verbrauchs Schritt halten könnte. Der einzige nachhaltige Weg wäre ein sorgsamerer Umgang mit Sand, sein sinn- und maßvoller Einsatz und auch seine Wiederverwertung. Nach einem nachhaltigen Umgang sieht es allerdings nicht aus. Sand ist dem Volumen nach gleich nach dem Wasser der wichtigste Rohstoff überhaupt. Beton besteht zu zwei Dritteln aus Sand. In 1 km Autobahn stecken 30 000 t Sand; weltweit werden jedes Jahr etwa 10 Mrd. t Sand für Straßenbau und für die Industrie verbraucht. Von Jahr zu Jahr steigt als Folge des Baubooms die Nachfrage nach ihm, und 2018 lag der Verbrauch nach Schätzungen des UN-Umweltprogramms UNEP bei 50 Mrd. t Sand (davon in Deutschland 100 Mio. t). Mindestens drei Viertel oder mehr (manche Schätzungen sprechen von mehr als 90 %) verbraucht die Bauindustrie.

Für diesen enormen Bedarf ist v.a. Asien verantwortlich. Zu den „Top-Five“-Ländern, die an der weltweiten Produktion von Zement als Baustoff maßgeblich beteiligt sind, gehören China (58 %), Indien (6,75 %), USA (2 %), Brasilien und die Türkei (3,25 %). Alleine China hat 146 400 km Straße in einem Jahr gebaut. Die Nachfrage nach Sand ist enorm und die Sandindustrie prognostiziert einen stetigen Anstieg des Bedarfs.

Kaum jemandem ist bewusst, dass Sand auch sonst in unserem Alltag allgegenwärtig ist: vom Glas angefangen über Waschbecken, Toilettenschüsseln und Geschirr, über Zahnpasta und die Jeansherstellung bis hin zu Computern, Smartphones und unzähligen weiteren Waren.


Die Strände verschwinden – der Strand rutscht ab. Entnimmt man aus dem Meer große Mengen Sand, entsteht am Grund eine Art Hohlraum. Dieser ist nicht stabil: Der Sand vom Strand rutscht ab, und durch das Zusammenspiel von Wind und Wasserbewegung wird die Grube aufgefüllt. Dabei wird das natürliche Sedimentgefüge gestört, was katastro­phale Folgen für die Küste nach sich ziehen kann. Illustration aus Hofrichter (2020).


Wo liegt das Problem?

Der grenzenlose, ausufernde Bauboom erzeugt weltweit einen enormen Sandbedarf für Beton und andere Baumaterialen. Der Geologe Klaus Schwarzer von der Universität Kiel erklärt das Problem am Beispiel von Singapur. Das kleine Land hat den weltweit größten Pro-Kopf-Bedarf an Sand, doch den benötigten Bausand als Ressource besitzt es nicht. Er muss importiert werden. In anderen asiatischen Ländern wie Thailand, Malaysia, Indien, Vietnam, Kambodscha oder Indonesien werden – legal oder illegal – ganze Küstenabschnitte abgetragen, um den Bedarf zu stillen. Der Raubbau am Sand verschlimmert dort eine ohnehin schon dramatische Situation, denn als Folge der Erderwärmung steigt nicht nur der Meeresspiegel, sondern es ändern sich beispielsweise auch die Strömungsverhältnisse. Küstenerosion ist ein greifbares Problem, mit dem viele Küsten und Inseln kämpfen.

Indonesien hat Singapur beschuldigt, allein in den letzten zehn Jahren für das Verschwinden von mittlerweile über 80 Inseln verantwortlich zu sein. Ganze Ökosysteme sind zerstört, mit unabsehbaren Folgen etwa für die Fischerei und natürliche Kreisläufe. Der Sandboden mit seinem Lückenraum, das Ökosystem Psammon, ist einer der wesentlichsten marinen Lebensräume. Die Sauganlagen und Bagger zerstören jede Sekunde Billionen Lebewesen. Doch steht der sandige Meeresgrund nicht für sich allein; er ist auf unüberschaubar vielen Wegen verknüpft mit dem Lebensraum des freien Wassers. Unzählige Wechselwirkungen gehören zum Wesen von Ökosystemen.

Küsten und Inseln sehen sich mit enormen Erosionsproblemen konfrontiert. Der Sand war ja nicht zufällig dort, wo er war. Es gab ihn in organischer Einheit, seitdem sich Erde und Ozeane entwickelt haben. Er ist eingebettet in ein großes und funktionierendes Ganzes. Dass der Sand schöne Strände, Dünen und Lebensräume bildet, ist nur ein Aspekt. Der Sandkörper schützt auch die Küste, er reguliert den Grundwasserspiegel mit, er regelt den Austausch zwischen dem Meerwasser und dem Grundwasser an Land. Die Sedimentfracht der Flüsse geht durch den Bau von Staudämmen massiv zurück (weltweit liegt die Zahl der Staudämme bei 850 000 und es werden immer mehr), doch gerade dieses Sediment wäre erforderlich, um das Eindringen des Meeres ins Land einzudämmen.

Ohne eine tragende und schützende Sandschicht müssen Deltas, Flussmündungen, Küsten und das Grundwasser versalzen. Viele Küsten müssen nun künstlich durch Steine befestigt werden, um nicht völlig abgetragen zu werden. Doch damit verlagert man das Problem nur ein wenig weiter. Spezialschiffe mit Saugpumpen und Sandkanonen pumpen Unmengen von Sand zum Ufer hin (Sandvorspülung), um die Küste zu stabilisieren und den Landverlust durch Erosion auszugleichen. Da der Verlust von Stränden und Sand auch eine wirtschaftliche, nicht nur eine ökologische Katastrophe bedeutet, werden vielerorts Milliarden an Dollars in den Erhalt der Küste investiert. Allerdings ist dies bei gleichzeitigem Raubbau und Klimawandel eine Sisyphusarbeit. Wie der 2014 verstorbene Geologe und Sandexperte Michael Welland sagte: „Jedes einzelne Sandkorn wird von den Wellen immer in Bewegung gehalten. Der Sand bewegt sich nicht nur vor und zurück, sondern auch entlang der Küsten. Alles, was wir an den Küsten bauen, wirkt sich auf dieses Gleichgewicht automatisch negativ aus. Was passiert, wenn wir eine Mauer errichten, um den Sand zurückzuhalten? Wir hindern den Sand daran, an den Strand unseres Nachbarn zu gelangen. Also baut der auch eine Mauer und damit eskaliert das Problem erst richtig.“


Der Traum von einem Tropenstrand. Es ist eine natürliche Neigung von uns, Erinnerungsstücke mitzunehmen und dadurch die Naturerlebnisse für lange Winterabende gewissermaßen „zu konservieren“. Doch ist es zugleich notwendig sich über die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt zu informieren. Bestimmt wäre die Diskussion gegenstandslos, wenn ein Mensch, oder sollen es zehn, hundert oder tausend sein, etwas Sand mitnehmen würden. Es sind aber viel mehr Menschen, die heute reisen. Es sind Millionen, hunderte Millionen.


Sandschmuggel und Sanddiebstahl: Korruption und mafiöse Strukturen

Korruption zählt zu den wesentlichen treibenden Kräften der Umweltzerstörung. Wo keine staatlichen Kontrollen greifen, werden geschäftliche Möglichkeiten von Gruppen genutzt, die sich an keine ethischen Regeln halten. Der Hunger der Immobilienbranche nach immer mehr Sand ist unstillbar, weil Immobilien ein perfektes Spekulationsobjekt darstellen und für hohe Gewinne sorgen. Es wird immer mehr Sand verbraucht, aber nicht nur dort, wo tatsächlich Menschen die neuen Gebäude brauchen. Hunderttausende Wohnungen und Gebäude stehen nach Angaben von NGOs und Experten ungenutzt leer. Beim Immobilienboom geht es zu einem großen Teil um Kapitalanlage. Mafiöse Strukturen mischen dabei kräftig mit. Für sie spielt es keine Rolle, dass annähernd die Hälfte der Menschheit an oder in der Nähe von Küsten lebt und diese ihre Lebensgrundlage darstellt. Als Folge von Überfischung, Lebensraumzerstörung und Verschmutzung verlieren Hunderte Millionen Menschen ihre Lebensgrundlagen – die Ausgangssituation künftiger Massenwanderungen.

Die Mafia hat viele Gesichter, und ein relativ neues ist das der sogenannten Sandmafia, von der Umweltschutz-NGOs reden. In vielen Ländern der Dritten Welt ist illegaler Sandabbau ein zunehmendes Problem. Noch einmal das Beispiel Singapur: Der Bauboom dort hat zu Umweltdesastern in anderen asiatischen Ländern geführt, was die Staaten hat handeln lassen. Sie haben den Export von Sand nach Singapur verboten. Der Preis für eine Tonne stieg daraufhin von umgerechnet 2,55 auf 161 Euro. Schon 2013 sprach man von 70 Mrd. Dollar Umsatz mit Sand. Solche Gewinndimensionen locken illegale und mafiöse Strukturen an. Das Sandgeschäft, in das kriminelle Gangs wie auch Beamte involviert sind, ist korrupt, wobei Drohungen und Mord zum Geschäft dazugehören. In Ländern der Dritten Welt gelangt immer häufiger ungewaschener Meeressand in den Stahlbeton. Sein Salzgehalt führt aber zu Korrosion. Die daraus gebauten Gebäude sind weniger sicher und können eine kürzere Lebensdauer haben.


Sand am Mittelmeer

Wie ist die Lage am Mittelmeer? Etwa 46 % der 46 000 km seiner Küstenlänge bestehen aus einer Form von Sediment (inklusive Kies, Geröll, Blockfelder), nur ein Teil davon ist der begehrte Sand. Und 54 % der Mittelmeerküsten, der etwas größere Teil also, ist felsig.

Beginnen wir mit einer Geschichte aus Sardinien, die nur auf den ersten Blick skurril anmutet. Seit einigen Jahren können dort Touristen, die in einem Fläschchen oder in einer Plastiktüte etwas Sand von einem Strand „rauben“, empfindlich bestraft werden. Überwachungskameras an Stränden versuchen, die Übeltäter zu entlarven und am Flughafen wird alles Gepäck auf Sand untersucht. Bis zu 3 000 Euro (manche Quellen sprechen sogar von 9 300 Euro) Strafe droht jenen, die sich eine Handvoll Sand vom sardischen Traumstrand nach Hause mitnehmen wollen. In Anbetracht der mafiösen Geschäfte mit Sand, die bereits angesprochen wurden, erscheint das kleinlich. Doch wird Sardinien von annähernd 2 Mio. Touristen jährlich besucht. Wir können uns nur vage vorstellen, was für Mengen da zusammenkämen und wie viel Strand beispielsweise in zehn Jahren verschwände, wenn sich jeder Besucher ein Fläschchen Sand abfüllte. Das Gute an der Geschichte ist, dass auf Sardinien das Bewusstsein für das Sandproblem bei der Bevölkerung bereits gut verankert ist, unvergleichlich besser als in der Dritten Welt, wo die Armut und der Überlebenskampf den Menschen keine Zeit lassen, über Nachhaltigkeit nachzudenken. Die Bewohner Sardiniens wehren sich gegen die Plünderung ihrer Insel, sogar wenn sie in Dimensionen von kleinen Mitbringseln in den Koffern der Urlauber geschieht. Der Rechtsstaat greift durch und schöpft seine Möglichkeiten der Kontrolle aus. Diese Einschränkungen der Freiheit einzelner Reisender ist der Preis, den wir für die Überbevölkerung zahlen müssen – und das bezieht sich nicht nur auf das Sammeln von Sand, Steinchen oder Muscheln, sondern auch auf viele andere beliebte Aktivitäten, die einst als ganz normal betrachtet wurden.

Kleinere Diebstähle von Sand – beispielsweise für den privaten oder gewerblichen Bau – passieren überall rund ums Mittelmeer, und zwar umso mehr, je schlechter der Umweltschutz staatlich überwacht wird. Staaten wie Syrien, Libyen und zahlreiche weitere haben in Zeiten der politischen Destabilisierung kaum Kapazitäten für den Küstenschutz. Kein anderes südliches Mittelmeerland macht das deutlicher als Marokko, das derzeit meisbesuchte Land in Afrika. Dorthin reisten 2016 ganze 10,3 Mio. Touristen und generierten damit 115 Mrd. Dirham Umsatz. Die Schattenseite des Tourismus ist ein ungebremster und wie überall sonst spekulativer Bauboom. Da die staatliche Kontrolle fehlt, erreicht der Raubbau an den Sandvorräten der atlantischen und mediterranen Küsten ungeahnte Dimensionen. Ganze Küstenabschnitte gleichen felsigen Mondlandschaften; sie sind landschaftlich und ökologisch für lange Zeit zerstört. Das Paradox: Der fehlende Sand der Strände steckt in jenen z.T. leer stehenden Hotels und Appartements, in denen Touristen und wohlhabende Europäer wohnen sollen, die sich eigentlich auf dem Sandstrand unter die Mittelmeersonne legen wollten.

Experten einer Studie waren bereits 2007 überzeugt, dass der Sandabbau in Küstenlebensräumen in Marokko die weltweit größten Dimensionen erreicht. Wo Dünenlandschaften sein sollten mit ihrer endemischen Vegetation, Niststrände für Meeresschildkröten und Vögel, Feuchtgebiete und Lebensräume mit internationaler Bedeutung (z. B. für den Vogelzug), bleiben von der Spritzwasserzone bis weit hinaus ins Flachwasser nur Mondlandschaften zurück. Ohne seinen schützenden Sandgürtel ist das Land der vollen Wucht der marinen Erosion ausgesetzt: Stürmen, hohen Wellen, Tsunamis. An derart degradierten Küsten hat schon ein geringer Anstieg des Meeresspiegels weitreichende Folgen. Nicht nur das touristische Potenzial dieser Orte ist zerstört, auch die übrigen Lebensgrundlagen der Küstenbewohner verschwinden für Generationen. An der Küste Marokkos sind zudem archäologische Fundstätten bedroht.

Der größte Sandkonsument Europas ist Spanien. Vor der Wirtschaftskrise erlebte Spanien einen beispiellosen Bauboom: bis zu 600 000 neue Wohnungen pro Jahr; das war mehr als in Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Ein großer Teil davon, etwa 30 %, standen leer. Im ganzen Land gab es über 1 Mio. leerstehende Neubauwohnungen. Erst 2017 kam ein neuer Trend und viele Wohnungen wurden verkauft (fast 465 000). Dennoch herrscht weiterhin großer Wohnungsmangel, weil Spekulanten die Preise hoch halten. Ein neuer Immobilienboom bedeutet aber nicht nur in Spanien eine neue Spekulationsblase. Korruption ist in dieser Branche weit verbreitet, und während Teile der Bevölkerung durch Spekulanten und den Finanzsektor in den Ruin getrieben wurden, geht der zerstörerische Bauboom weiter.

Selbst in Israel, einem Land mit gut funktionierendem Staatsapparat, kommt es regelmäßig zu Sanddiebstahl. Im Jahr 2014 gelang es der Polizei, 20 Mitglieder einer „Sand-Bande“ zu verhaften. Betroffen waren sensible Naturschutzgebiete in den Yavne-Sanddünen. Sand wird auf jede erdenkliche Weise den Lebensräumen entnommen: mit Hand und Schaufel oder mit kleinen und großen Maschinen. Abtransportiert wird er z.T. auf dem Rücken von Eseln und Maultieren oder aber gleich mit großen Lkws. Im Jahr 2012 gab die israelische Regierung die Baupläne des Landes für die kommenden Jahrzehnte bekannt, der Bedarf an Sand wurde dabei mit 290 Mio. t angegeben. Schon in den Jahrzehnten davor wurden wertvolle Lebensräume durch Sandabbau zerstört. Der Sand für die nächsten Bauprojekte soll daher nicht mehr aus den Küstenebenen kommen, sondern aus dem „Roten Plain“ in der Negev-Wüste.

Monaco, das „Manhattan am Mittelmeer“, hat ein Platzproblem: Der zweitkleinste (Zwerg-)Staat der Mittelmeerregion und der Welt mit nur etwas mehr als 2 km² Landesfläche beherbergt fast 19 000 Einwohner pro Quadratkilometer. Diese Einwohner haben Geld. Darum wird versucht, dem Meer neues Land abzuringen. Und das geht nur mit Sand. Dieser wird z.T. aus dem Meer gepumpt, z.T. zu Hunderttausenden Tonnen aus Sizilien importiert. 2016 startete ein gigantisches Projekt, um 6 ha neues Land zu schaffen. Schon lange vor dem Projektstart wurden marine Organismen aufgesammelt und umgesiedelt und z.T. künstliche Felsriffe gebaut, um neue Lebensräume zu schaffen. Das ändert nichts daran, dass Monaco bereits bei früheren Bauprojekten 80 % seiner küstennahen, seichten marinen Lebensräume zerstört hat. Gerade dieser strandnahe Streifen ist der artenreichste und produktivste Teil des Mittelmeeres.


Sand ist keine unendliche Ressource. Ein Strand auf den Seychellen wird durch Starkregenfälle in den Bergen weggespült (in diesem Fall also eine natürliche Ursache) …


Wie kann man den extremen Sandabbau stoppen?

Das Problem des übermäßigen Sandabbaus hat auf der ganzen Welt derartige Dimensionen angenommen, dass es keine einfache oder schnelle Lösung gibt. Und der Bauboom wächst weiter. Spekulative bis mafiöse Strukturen sind inzwischen maßgeblich beteiligt am Geschäft mit dem Sand. Dass sich keine leichte und ökologisch nachhaltige Lösung anbietet, liegt auch daran, dass der Mensch massiv in die geologischen Kreisläufe der Erde eingegriffen hat. Das Sediment, das von Natur aus ins Meer gehört und sich dort angehäuft hat seit der Entstehung der Erde, erreicht seit einem Jahrhundert seinen Bestimmungsort immer weniger – bis gar nicht mehr. Die Dämme und Staustufen der Staaten schneiden das Meer vom Sandnachschub ab. Schon in den Flüssen wird Sand abgebaggert, der dann dem marinen Ökosystem fehlt.

Darum können alle nachfolgend erwähnten Lösungsvorschläge keine sofortige Abhilfe schaffen. Der erste Schritt ist aber die Bewusstseinsbildung. Die Aufklärungs- und Lobbyarbeit für den Sand müssen intensiviert werden. Darum nimmt das Thema auch in diesem Werk einen wichtigen Platz ein. Ein weiterer Schritt ist Forschung, wie aus glattem Wüstensand rauer Bausand gewonnen werden kann. Zahlreiche Institutionen forschen weltweit an der technischen Aufbereitung von Wüstensand, um seine Oberfläche zu verändern und ihn dadurch für den Bau nutzbar zu machen. Und wenn die glatten Sandkörner mit Kunstharz kombiniert werden, kann daraus ein Polymerbeton entstehen (statt Zement kommt ein Kunststoff/Polymer als Bindemittel zum Einsatz), der „unschlagbare physikalische und chemische Eigenschaften hat“, wie die Werbung betont. Lange Lebensdauer und die Recyclingfähigkeit sind Vorteile, die von Herstellern und Anbietern hervorgehoben werden. Eine Welt aus Kunststoff soll Abhilfe schaffen – das ist paradox.

Geforscht wird auch an der Wiederverwertung von bereits festem Beton. Das erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Jedoch muss es für den wirtschaftlich sinnvollen und ökologisch nachhaltigen Einsatz genug alten Beton in der Nähe der Baustelle geben. Auch die erforderliche Technologie zur Aufbereitung des Betonabbruchs muss vorhanden sein. Dieser wird gebrochen und gesiebt, damit Betonsplitt und Betonbrechsand entstehen. Für die weitere Verarbeitung des so gewonnenen Materials ist wiederum das Bindemittel Zement erforderlich. „Betonbruch kann die natürlichen Ressourcen Kies und Sand ersetzen“, verspricht die deutsche Zementindustrie. „Durch Recyclingbaustoffe können rund 5 – 10 % der benötigten mineralischen Rohstoffe ersetzt werden.“

Dass Glas aus (Quarz-) Sand hergestellt wird, ist allgemein bekannt. Weniger verbreitet ist die Erkenntnis, dass aus Altglas Sand gemacht werden kann. „Glasstrand statt Sandstrand“, lautet dabei die Parole. Bereits seit den 2000er Jahren wird der Einsatz von Glassand in verschiedenen Regionen getestet, und längst gibt es ganze Strände aus Glas. Vielversprechend ist, dass Tiere und Pflanzen mit Glassand offensichtlich gut zurechtkommen und diesen als Lebensraum annehmen. Sogar Meeresschildkröten nutzen bereits manche der aus Glassand wieder aufgeschütteten Strände. Da große Altglasmengen ungenutzt im Abfall landen, ist die Gewinnung von Glassand eine durchaus sinnvolle Maßnahme, obwohl sie beim derzeitigen Tempo des Baubooms und Raubbaus an Sand nicht die endgültige Lösung des Problems sein kann. Überhaupt müssen bei sämtlichen Innovationen und Verbesserungsvorschlägen alle Faktoren geprüft werden, z. B. die Länge der Transportwege, welchen Aufwand und wie viel Energie die Aufbereitung des Materials erfordert, woher diese Energie kommt und vieles andere. Erst nach sorgfältiger Abwägung aller Aspekte kann entschieden werden, ob eine vermeintliche Lösung auch wirklich eine Lösung ist.

Könnte sogar Stroh, welches teilweise nach der Ernte verbrannt wird, eine dieser Alternativen sein? Selbst damit wird experimentiert. Gebäude aus Strohballen sind perfekt isoliert und sogar relativ feuersicher.


Bevor die Sandburg weggespült wird

Eine der klassischen, fast schon klischeehaften Assoziationen, die wir mit Urlaub und Sandstränden verbinden, war für Generationen das Bauen von Sandburgen. Und gerade dieses Bild liefert uns eine Warnung, die jeder leicht verstehen kann: Wir alle haben unzählige Male solche Sandburgen verloren. Die Wellen holen sich das Baumaterial, den Sand, unerbittlich zurück. Dasselbe droht unseren Küsten und anderen Lebensräumen. Schätzungen der UNEP gehen davon aus, dass weltweit drei von vier Stränden bedroht oder im Verschwinden begriffen sind. Das hat mehrere Ursachen, der Raubbau an Sand ist eine davon. Das Zubauen und Zubetonieren der Küste, das zu nahe Bauen am Strand, sind weitere. Dadurch nimmt man dem Strand jenen Platz, den er im jahreszeitlichen Wechsel der Winde und der Brandung braucht, um sich dynamisch den Bedingungen anzupassen. Wenn der Bewegungsspielraum für beträchtliche Verfrachtungen von Sandmassen und den jahreszeitlichen „Umbau“ des Strandes fehlt, kann dieser nach und nach abgetragen und weggespült werden. Sand und Erdöl haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam, doch in Beziehung zu unserem überhöhten Verbrauch sind sie sich ähnlich. Beide stellen keine unbegrenzte Ressource dar. Und beide setzen wir auch dort ein, wo es bereits Alternativen gäbe, nur weil es derzeit die billigere Lösung ist.

Sand ist noch kein Thema im Europäischen Parlament in Brüssel, obwohl es höchste Zeit dafür wäre. Aufklärung ist wichtig: Die Öffentlichkeit sollte darüber in Kenntnis gesetzt werden, damit begonnen werden kann zu handeln. Alternativen zum Baustoff Sand müssen gefunden werden.


Haben Sie Fragen zu diesem Thema oder anderen Themen des Umweltschutzes? Wenden Sie sich an den Autor und Herausgeber von „Das Mittelmeer“:
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(c) Sandra Bracun und Robert Hofrichter, 2021