Out of Afrika – die Ozeane als Barrieren und Brücken
Odysseus war nicht der erste
Der Menschen wenige gelangen über's Meer,
die andern laufen nur am Ufer hin und her.
Dhammapada, Pfad der Lehre
Die ältesten Geschichten in Zusammenhang mit der menschlichen Seefahrt bleiben im Dunkel der Geschichte verborgen, und unser Wissen über sie ist mit Unsicherheiten behaftet. Die Vernunft rät uns in dieser Hinsicht offen für neue Einsichten zu sein, denn neue archäologische Funde könnten unsere derzeitigen Vorstellungen jederzeit auf den Kopf stellen. Dennoch: Die Abenteuer unserer Ahnen auf dem Ozean sind viel zu aufregend um nicht erzählt zu werden, selbst wenn sich an ihrer zeitlichen Zuordnung oder Interpretation etwas ändern sollte und wir da und dort einige tausend Jahre korrigieren müssen.
Eines gilt als gesichert: Die Datierung vieler geistiger Leistungen unserer Ahnen verschiebt sich immer weiter zurück in die Geschichte. Beispielsweise wurden vor wenigen Jahren bei Lake Turkana in Kenya 3,3 Millionen Jahre alte Steinwerkzeuge gefunden. Das verschob die äußerste Grenzen des uns bekannten Werkzeuggebrauchs durch Hominiden – lange bevor Homo sapiens die Erde bevölkerte – gleich um 700.000 Jahre rückwärts in die Vergangenheit. Eine unfassbare zeitliche Dimension. Auch in Bezug auf die Verwendung von Wasserfahrzeugen lässt sich dieser Trend erkennen. Unsere Vorfahren (und Verwandte wie der Neandertaler) waren offensichtlich klüger als wir bisher annahmen.
Ans andere Ufer: viele offene Fragen
Zu Jahresbeginn 2017 veröffentlichte ein Team um Rasmus Nielsen in der renommierten Zeitschrift Nature einen Beitrag über die Besiedlung der Welt auf Basis einer Zusammenfassung neuester genetischer Daten. Teil dieser Arbeit ist eine faszinierende Karte, auf der die Geschichte unserer Art und wie sie nach und nach den Planeten erobert hat übersichtlich mit Pfeilen und ergänzenden Zeitangaben dargestellt ist. Ganz klar, einer solchen Eroberung stellen sich nicht nur schier endlose Kontinente – wie Eurasien – in den Weg, sondern noch dramatischer riesige Ozeanflächen. Doch, wie eine indianische Weisheit besagt, muss jemand, der ans andere Ufer möchte, so oder so den Fluss überqueren. Worauf also warten? Daran haben sich nicht nur die Indianer selbst gehalten, sondern die Menschen aller Epochen und überall auf der Welt. Mehrfach führen Linien auf der Karte des renommierten Magazins quer durch den Ozean, mit maximal 55.000 angegebenen Jahren als Datum für die Besiedlung Australiens. Vor 15.000 bis 23.000 Jahren überquerten Ostasiaten hoch im Norden Beringia – die damals entstandene Landbrücke zwischen Asien und Nordamerika – und erreichten den amerikanischen Kontinent. Ob sie jedoch wirklich die ersten Hominiden auf dem Boden der Neuen Welt waren, bleibt Gegenstand aufgeregter Diskussionen. Tatsächlich führt auf der besagten Karte eine gestrichelte Linie aus Ostasien quer durch 16.000 Kilometer offenen Ozean nach Südamerika. Alternative Route nach Amerika, steht dabei ...
Über das Thema wird seit Jahrzehnten heftig spekuliert. Mit Recht, sind doch die Hypothesen rund um die Wanderungen der ersten Amerikaner, genauer jener, die zu Amerikanern werden sollten, allesamt recht spannend. Denn – die Ansichten des derzeitigen US-amerikanischen Präsidenten außer Acht lassend – Migranten und ursprüngliche Afrikaner sind wir schließlich alle. Was aber trotz aller Diskussionen sämtlichen Thesen gemeinsam ist: Sie führten allesamt über das Meer. Zumindest darüber müssen wir also nicht streiten. Die Frage unserer Kapitelüberschrift lässt sich eindeutig beantworten: Die Ozeane wurden tatsächlich zu Brücken, was ihre Talente als Barriere aber keinesfalls schmälert. Was bisher aber vielfach fehlt, sind greifbare Beweise: Keine glaubhafte Spur von einem Boot oder Floß aus jener frühesten Zeit und kaum Knochenrelikte der angenommenen Seefahrer an den passenden Stellen der möglichen Landberührung ließen sich bisher finden.
Was stimmt also? Die alte Beringstraßen-These, nach der sämtliche Ureinwohner Amerikas sibirische Vorfahren haben? Oder aber befuhren die frühen Seefahrer den nördlichen Pazifik, um die amerikanische Westküste zu erreichen um sich dann nach Süden vorzukämpfen? Oder waren es Südostasiaten oder Polynesier, die vom West- oder Südpazifik her die Küsten Südamerikas quer durch den Ozean besiedelten? Waren es gar Europäer, die über den Atlantik an der weit in den Süden reichenden Grenze des polaren Eisschilds entlang fuhren um an der Ostküste Nordamerikas zu landen? Oder wanderten Menschen schlicht vom Gebiet des heutigen Frankreichs aus nordostwärts durch Russland und Sibirien um aus dieser Richtung anzukommen, um dann nur noch die schmale Beringstraße zu überqueren? Die erste wissenschaftlich wirklich belegte europäische Besiedlung in Amerika erfolgte etwa um 1000 n. Chr. durch die Wikinger.
Auswanderung liegt uns im Blut
Ich wollte Ihnen die wichtigsten Vorstellungen skizzieren, eine spannender als die andere, und zugleich kleinlaut zugeben, dass ich nicht wirklich wissen kann, welche stimmt. Denn zulässig wäre auch die Vorstellung, dass nicht bloß eine These zutrifft, auch zwei oder drei unterschiedliche könnten einen wahren Kern haben. Über die ersten Amerikaner wird also noch diskutiert, nicht jedoch darüber, dass wir ursprünglich alle Afrikaner waren.
Angesichts der modernen Forschung, wie sie in der erwähnten Arbeit verständlich zusammengefasst ist, müssten Rassisten verschiedenster Couleur allmählich der Verzweiflung anheimfallen: Die Wissenschaft mit ihren molekularbiologisch-genetischen Methoden hat über alle Zweifel erhaben bewiesen, dass Afrikaner unser aller Vorfahren waren, selbst von den blondesten Blauäugigen – und das liegt noch nicht einmal so lange zurück. Nicht nur von ihnen, sondern ebenso von Eskimos, Indianern, Chinesen, Aborigines und überhaupt aller Menschen, die auf der Erde leben und je gelebt haben.
Es gibt nichts Neues unter der Sonne, die heutige Migrationswelle aus Afrika ist keinesfalls die erste ihrer Art. Vielmehr stand dieses Phänomen am Anfang der Ausbreitung von Homo sapiens über den Globus. Nicht nur der „Vernunftbegabte Mensch“, sondern alle Hominiden, unsere frühen Großonkel und Vettern, sind Kinder Afrikas. Und wenn sich die Welt nicht radikal ändert, statt Waffen lieber Know How und Entwicklungshilfe auf den Schwarzen Kontinent liefert, nicht mit der rücksichtlosen Ausbeutung der Ressourcen zum Nutzen von Konzernen und Nachteil der Menschen aufhört, dann wird die Migrationswelle auch das Ende einer auch nur annähernd „stabilen“ postkolonialer Welt werden. Schon damals in der Urgeschichte waren Klimaphänomene und Überbevölkerung primäre Gründe für Out of Afrika, in den kommenden Jahrzehnten wird es nicht anders sein. Dieses Kapitel wird Ihnen zeigen, dass uns die Auswanderung zutiefst im Blut liegt – ohne sie würde es auch uns Europäer mit unserem Wohlstand nicht geben. Und dass nicht einmal die Ozeane uns davon abhalten konnten neue Welten zu erobern. Das speziell in seiner Süd-Nordausdehnung „mickrige“ Mittelmeer hat seine Funktion als Barriere längst verloren (vielleicht schon vor zehntausenden Jahren? Mehr dazu am Ende des Kapitels). Es wurde zur Brücke. Keine Mauer wird diese Migrationswelle stoppen können, nur ein tief greifendes Umdenken der reichen westlichen Welt: Ende der Ausbeutung und des Ausverkaufs, echte Entwicklungshilfe statt Waffen.
Die Genetik verrät es
Woher wir so genau wissen, dass wir alle aus Afrika kommen? Erstens war es bereits längst aus archäologischen und paläontologischen Funden bekannt, doch hinzu kam die Revolution der Lebenswissenschaften in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durch Sequenzierung der DNA. Für Walter Gilbert und Fred Sanger, die unabhängig voneinander entsprechende Methoden entwickelt haben, gab es dafür 1977 den Nobelpreis. Eine Rekonstruktion von Stammbäumen auf völlig neuem Wege wurde möglich, nicht nur bei Menschen, sondern bei allen Lebewesen. Lassen Sie uns einen Blick auf diese komplexe Materie werfen, denn auch sämtliche Kreaturen des Meeres wurden nach dieser modernen Wissenschaft neu katalogisiert. Durch sie lernen wir von Menschen, Tieren, Pflanzen, Pilzen und Bakterien, und nichts wäre ohne sie heute erklärbar und verständlich. Manchmal bestätigten sich alt vermutete Verwandtschaften und Theorien dadurch, andere Male wurde alles auf den Kopf gestellt, was wir über familiäre Zusammenhänge zu wissen glaubten.
Den Forschern kam bei all dem eine bemerkenswerte Tatsache zugute: Erbmaterial findet sich nicht nur im Zellkern aller Zellen – jenes Erbmaterial von Mutter und Vater, das letztlich bestimmt was aus wem wird. Auch in den Mitochondrien (das sind Zellorganellen, so nennen Biologen bestimmte „Organe“ der Zellen, die durch Membranen in funktionelle Einheiten abgegrenzt sind), findet sich eine eigene DNA. Und die hat für die hier geschilderten Zwecke beträchtlich Vorteile. Denn während die im Zellkern enthaltene mütterliche und väterliche DNA durch Rekombinationen des Erbguts „die Spuren der Evolution verwischt“ und den Forschern nach vielen Generationen eine Bestimmung schwermacht, werden die Mitochondrien nur von den Müttern vererbt, und ihre DNA wird nicht rekombiniert. Wie in einem Buch lesen die Fachleute damit in jedem Individuum die Geschichte der erfolgten Mutationen, die ein unverwechselbares Muster ergeben. Die Mutationsrate in Mitochondrien ist verglichen mit dem Erbgut des Zellkerns vielfach höher, so dass mit der Zeit ausreichend Auffälligkeiten „aufgelistet“ werden.
Alle Menschen, Frauen und Männer, haben Mitochondrien in ihren Zellen, und mit ihnen die entsprechende DNA. Damit kann man ihre Abstammung mütterlicherseits studieren. Ein Y-Chromosom mit der väterlichen Linie des Erbguts haben hingegen nur Männer – eine Möglichkeit für sie herauszufinden, woher ihre Väter stammen. In beiden Fällen spricht man von so genannten Haplogruppen und der Haplogruppen-Forschung. Ich selbst habe durch einen einfachen Test aus einer Probe der Mundschleimhaut erfahren, dass meine männlichen Vorfahren eindeutig Wikinger waren, obwohl ich mich immer als reinen Mitteleuropäer sah. So kann man sich täuschen.
Schlechte Zeiten für Rassisten
Und nun kommen wir zur Unsinnigkeit rassistischer Ansichten nach Afrika zurück: Die Erforschung der mitochondrialen DNA ergab, dass sämtliche heute lebenden Menschen anscheinend von einer einzigen Frau abstammen, die vor maximal 200.000 Jahren auf dem afrikanischen Kontinent gelebt hat (später korrigierte man die Zahl auf 150.000 Jahre) und die man fortan „Mitochondriale Eva“ nannte. Selbstverständlich hat es zu ihrer Zeit auch andere Frauen gegeben, doch nur von dieser blieben die genetischen Spuren in den Mitochondrien zurück. Damit wissen wir: „Out of Afrika“ ist keine bloße Hypothese, unsere gesamte Verwandtschaft, die Hominiden, stammen vom Schwarzen Kontinent, und zwar nicht nur unsere eigene Spezies, die in etwa ebenso alt ist wie die „Mitochondriale Eva“ selbst, sondern auch unsere Vettern wie der Neandertaler und sein östliches Pendant aus Asien, der Denisova-Mensch. Die größte genetische Variabilität der mitochondrialen DNA findet sich entsprechend in Afrika, der Wiege der Menschheit – im Entstehungszentrum unserer Verwandtschaft und Spezies. In welche Richtung sich auch Teilpopulationen dann auf den Weg machten, die Vielfalt ihrer DNA konnte nur verarmen.
Nicht immer glichen die Lebensbedingungen unserer Vorfahren jenen im Garten Eden. Irgendwann wurden sie sogar so schwierig, dass sich Populationen auf den Weg machten um nach besserem Leben zu suchen. „Das Gelobte Land liegt immer jenseits der Berge“, schrieb
Washington Irving. Oder hinter dem Ozean, könnten wir hinzufügen. Zum Teil war die Bevölkerungsvermehrung verantwortlich dafür, die in Afrika etwa vor 60.000 Jahren einsetze, zum Teil klimatische Änderungen und die Nahrungsknappheit in Folge damals revolutionärer Waffentechnologien, die zur Überbevölkerung und Übernutzung der Ressourcen führten, zum Teil weitere Faktoren wie Konkurrenz zwischen den Sippen, Konflikte und mögliche Seuchen. Ein Teufelskreis, der heute in ähnlicher Weise, nur noch viel dramatischer einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Das Rote Meer öffnet sich
Doch Afrika gleicht einer Insel – von allen Seiten von Ozeanen umgeben, im Norden vom Mittelmeer, einem sterbenden Ozean, dem Rest der alten Tethys, dann entlang einer 2.000 Kilometer langen Küste im Nordosten wiederum vom Roten Meer, das anders als das Mittelmeer damals ein junger, in Entstehung begriffener Ozean war und ist. Bloß an einer einzigen Stelle ist Afrika mit der riesigen Landmasse Eurasiens mit seinen 55 Millionen Quadratkilometern verbunden. Was für eine Chance die Welt zu erobern bietet sich dort, wo heute der Suezkanal den Golf von Suez des Roten Meeres mit dem Mittelmeer verbindet. Der „levantinische Korridor“, wie dieser Landstreifen genannt wird, gleicht einer natürlichen Brücke für Auswanderung die sicher auch auf dem Weg nach Europa von Frühmenschen genutzt wurde. Und doch gehen Experten davon aus, dass Homo sapiens einen anderen Weg nach Osten nahm. Einen Weg mit einem orientalischen Hauch von Schwermut in seinem Namen, Bab el-Mandeb (Tor der Tränen), der Meeresstraße zwischen dem Roten Meer mit dem Golf von Aden und damit dem Indischen Ozean und dem Weltmeer.
Warum die Menschen die Route über die heute rund 27 Kilometer breite Meeresstraße einschlugen, und nicht über den viel bequemeren „levantinischen Korridor“ und die Sinai-Halbinsel, vermag heute niemand zu sagen. Doch archäologische Beweise sprechen dafür. Fast 11.000 Kilometer von Bab el-Mandeb entfernt liegt die ungefähr 82 Kilometer breite und durchschnittlich nur etwa 30 bis 50 Meter tiefe Beringstrasse. Etwa 35.000 Jahre nach dem Exodus aus Afrika oder etwas mehr sollte Homo sapiens über sie den amerikanischen Kontinent erreichen. Denn während des Pleistozäns ist auch dieses seichte Meeresgebiet, genannt Beringia oder Beringbrücke, zwischen Ostsibirien und Alaska durch den Rückgang des globalen Meeresspiegels mehrfach trockengefallen, wodurch eine Landbrücke zwischen der Alten Welt und der Neuen freigegeben wurde. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels versank dann Beringia später wieder im Meer, und die Menschen in Alaska begannen von dort aus Amerika zu besiedeln.
Doch zurück zu Bab-el-Mandeb, diesem magischen Ort unseres Planeten, mit etlichen ozeanographischen Ähnlichkeiten zur Straße von Gibraltar, den antiken Säulen des Herakles. In beiden Fällen verbindet eine enge Meeresstraße ein praktisch vollständig von Landmassen eingeschlossenes Mittelmeer mit einem großen Ozean. Die heutige strategische Bedeutung von Bab-el-Mandeb könnte nichts deutlicher machen als die Menge an Öl, die hier täglich vorbeigeschleust wird: Mehr als 3,3 Millionen Barrel oder 520.000 Kubikmeter Rohöl.
Um zu verstehen, wie hier ein Kontinent gegen einen anderen eingetauscht werden konnte, müssen wir uns erstens die Topographie der Meersstraße vergegenwärtigen und uns zweitens wieder einmal in Erinnerung rufen, dass der Meeresspiegel alles andere als eine Konstante ist. Mehr als 100 Meter tiefer, manchmal sogar bis zu 145, konnte er liegen, und dieser Zustand hat sich im Wechsel der Kalt- und Warmzeiten allein im Pleistozän (den letzten Million Jahren) mehrmals wiederholt.
Zuerst also die Topographie: Zwischen dem Ras Menheli im Jemen bis zum Ras Siyyan in Djibouti sind es fast 30 Kilometer. Die Insel Perim trennt die Distanz in zwei ungleich breite Kanäle: Während der östliche, Bab Iskender oder Alexander's Strait nur drei Kilometer breit und lediglich 30 Meter tief ist, ist die westliche Straße, Dact-el-Mayun, an die 25 Kilometer breit und mehr als 300 Meter tief. Nahe an Afrika liegt eine Gruppe kleiner Inseln mit dem Namen "Seven Brothers".
Was die Schwankungen des Meeresspiegels betrifft: Selbst die tiefsten Stände konnten den tieferen Kanal nicht trockenlegen. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass das Rote Meer Teil einer der längsten tektonischen Störungen der Erdkruste ist, des Großen Ostafrikanischen Grabenbruchs. Auch das Festland kann sich heben und senken, in der Tiefe findet sich eine Spreizungszone des Meeresgrundes, ein Gebiet mit aktivem Vulkanismus. Viele Fachleute glauben, dass die Meeresstraße fast oder größtenteils trockenfiel – und das mehrmals – und dadurch den Weg für auswanderungswillige Menschen frei machte. Interessant ist, dass die Tewahedo-Kirche, eine uralte orientalisch-orthodoxe Kirche in Äthiopien, in ihrer Tradition das Wissen darüber bewahrt, dass Menschen Bab-el-Mandeb überquert haben – allerdings in die andere Richtung, von der Arabischen Halbinsel nach Äthiopien.
Bis heute lebt ein großer Teil der Menschheit an den Küsten der Meere oder zumindest in ihrer Nähe. Auch die Wanderungen der frühen Menschen fanden häufig entlang von Küsten statt. Uralte Abfallhaufen von Muschelschalen in verschiedenen Teilen der Welt zeugen davon, wie verlockend das marine Nahrungsangebot für unsere Vorfahren war. An anderer Stelle erwähnen wir die kulinarischen Vorlieben der Neandertaler – selbst Delfine und Mönchsrobben waren vor ihnen nicht sicher. Doch auch Steinwerkzeuge wurden in Shi'bat Dihya im Jemen und in Jebel Faya in den Vereinigten Arabischen Emiraten gefunden, die mit bis zu 80.000 oder sogar 125.000 Jahren datiert werden. Das „Out of Africa“ von Homo sapiens hat womöglich schon in kleineren Anläufen früher als gedacht angefangen. Allerdings haben schwankende Meeresspiegel auch Nachteile, zumindest für die Wissenschaftler: Fluten verwischten so manche Spuren der Wanderer, so dass Archäologen in mancher Hinsicht bis heute im Dunkeln tappen. Auch schon frühere Migrationen unserer Ahnen, etwa von Homo erectus, nach Asien, folgten vermutlich den Küsten, doch auch ihre Spuren liegen am Grund des Schelfs des asiatischen Kontinents. Immer wieder finden sich Steinwerkzeuge, deren Zuordnung schwerfällt – doch fehlen die dazugehörigen fossilen Zeugnisse jener Menschen, denen die Werkzeuge gehörten. Zum Teil sind sie älter als die angenommene Auswanderungswelle vor etwa 60.000 Jahren.
Das Auf und Ab des Meeresspiegels
Das Kontinentalschelf ist jener seichte Bereich der kontinentalen Platten, der vom Meer überdeckt ist, man denke nur an die gesamte Nordadria oder die Nord- oder Ostsee. Auf den ersten Blick sieht es für den Laien wie ein Meer aus – ob es jetzt 200 Meter tief ist oder 4.000, das merkt man an der Oberfläche nicht. Und doch ist Meer nicht gleich Meer. Meereskundler nennen das erstere „neritische Provinz“: Hier gibt es einen klaren Austausch zwischen Wasserkörper und dem Meeresgrund; sowohl das Land wie auch der offene Ozean beeinflussen das ökologische Geschehen. Dort wo dann das Schelf in die Tiefe abfällt, den Kontinentalhang hinunter in die Tiefsee, haben wir es mit einem ganz anderen Meer zu tun, der „ozeanischen Provinz“. Sie ist während all der Schwankungen des Meeresspiegels nie trockengefallen. Große Bereiche des Schelfs sind es hingegen immer wieder. Darum spielen sie auch für Out of Afrika eine wichtige Rolle. Ich bin überzeugt, wir würden es heute nicht anders machen und ebenso entlang des Meeres wandern, wenn wir in dieser Situation wären.
Was für ein archäologischer Verlust, dass an die 3.000 prähistorische Fundstätten mit Spuren einer langen Zeitperiode von 126.000 bis 11.000 (nach anderen Kriterien betrachtet sogar 500.000 bis 5.000) Jahren nun vom Meer bedeckt sind. Allerdings wäre die Vorstellung falsch, sagen uns die Archäologen, dass diese Schätze durch das Meer verloren sind. Manchmal ist es sogar so, dass das Meer sie besser konserviert als es irgendwo an Land oder in Höhlen der Fall wäre. Denn nicht nur steinerne Artefakte zählen zu den Funden, sondern auch menschliche und tierische Knochen, diverse Essens- und Pflanzenreste – zum Teil noch mit erhaltener DNA. Nur gestaltet sich der Zugang zu den wertvollen Fundstücken schwieriger – die Archäologen mussten erst Tauchen lernen. Die fortschreitende Technik der Tauchroboter wird künftig die Grabungen erleichtern. Viele Stellen sind zumindest kartographiert, einige bis zu einer Tiefe von 130 Metern sogar ausgegraben. Das ist jene Tiefe (unter der theoretischen Annahme, dass sich das Land nicht gehoben oder abgesenkt hat), die an den Höhepunkten der Kaltzeiten trockengefallen ist. An völlig anders aussehenden Küstenlinien, die heute Spezialtaucher mit eigenen Gasgemischen erkunden können, wanderten unsere Vorfahren einem neuen Leben entgegen. Das war sinnvoller als die vielfach ariden Gegenden des entfernteren Hinterlandes zu durchqueren. Küsten – das waren sozusagen die „Autobahnen“ der frühen Migration. Darum war die Aussage in der Einführung zu diesem Buch keinesfalls übertrieben: „An den Ufern des Meeres spürten schon viele vor mir etwas schwer Greifbares, führten ihren eigenen Dialog mit dem endlosen Gewässer an hohen, schroffen Klippen oder an endlosen Sandstränden und versuchten etwas von seinem Fluidum zu erfassen.“ Sämtliche Populationen der Erde mussten irgendwann das Meer passieren und seine Küsten durchstreifen. Viele Fragen unserer Ausbreitung auf der Erde werden sich nur durch die Erforschung des Schelfs beantworten lassen – dort liegen die Antworten und bestimmt noch mehr Überraschungen.
Mögen sich die Fachleute um genauere Datierungen streiten, für uns Laien ist es eigentlich unerheblich, ob es einige Jahrtausende mehr oder weniger waren. Woran keine Zweifel bestehen, ist das Faktum der Wanderung selbst. Die Ozeane waren zwar Barrieren, aber manchmal half die Natur durch Klimawechsel nach und seichte Meeresbereiche ließen sich überqueren. Denn schließlich sind die ältesten gesicherten Fossilbelege Australiens an die 60.000 Jahre alt (wie schon betont, einige Jahrtausende auf und ab in den unterschiedlichen Quellen dürfen uns nicht irritieren). Irgendwie mussten die Menschen hingekommen sein. Weitere Beispiele werden es nur noch bestätigen: Der Ozean wurde zur Brücke zu neuen Welten.
Homo sapiens macht sich auf den Weg
Irgendwann vor vielleicht 70.000 – 65.000 Jahren oder ein wenig später verlassen Menschen Afrika, queren das Rote Meer unter weniger dramatischen Bedingungen als später Moses und wandern entlang der südasiatischen Küste in zwei Expansionswellen (manche meinen, es war nur eine) gegen Osten. Vor vielleicht 55.000 Jahren erreichen wir Neuguinea und Australien. Unterwegs ist allerhand passiert. Denn, wie wir wissen, führen die Menschen am liebsten Kriege – oder aber sie machen Liebe, und verschmähen dabei etwas anders aussehende Geschlechtspartner keinesfalls. Das Wissen darüber wäre wohl für immer verloren und ließe sich archäologisch kaum beweisen, wäre da nicht jene moderne Wissenschaft über die Gene. Erst 2010 gelang es zum ersten Mal prähistorische menschliche Genome zu rekonstruieren, ebenso erste Sequenzen des Neandertalers und des Denisova Menschen zu entziffern. Schon ein Jahr später sequenzierte man die Gene von Aborigines, bald darauf von neolithischen Europäern. 2014 folgten weitere Meilensteine mit 12.600 Jahre alten Clovis-Menschen, 23.000 Jahre alten Menschen aus Sibirien, die Ähnlichkeiten sowohl mit Europäern als auch mit Amerikanern zeigten, 45.000 Jahre alte sibirische Funde, die zeigen wie ähnlich sich Westeuropäer, Ostasiaten und Aborigines sind, und dass auch der ausgestorbene Denisova Mensch dabei mitgemischt hat, und bis zu 38.000 Jahre alte Europäer. 2015 wurde durch 37.000 bis 42.000 Jahre alte Proben klar, dass sich moderner Mensch und Neandertaler vermischt haben. Allerhand Vermischung, Migration, erneute Vermischung, Rückwanderung, ständiger Austausch – das ist unsere Familiengeschichte. Keine Spur von Reinrassigkeit. Die Arbeit der „Detektive“ der Vorzeit ist kompliziert. Aber sehr spannend und aufschlussreich.
Im Buch der Mutationen lesen
Wie wir so gegen Osten wanderten, passierten in unseren Y-Chromosomen (bei Männern) und Mitochondrien (weiter gegeben werden diese ausschließlich über die Mutter) allerhand Mutationen, von denen wir in der Regel nichts mitbekommen haben. Zehntausende Jahre später machten diese unseren schlauen Genetikern große Freude, denn durch sie konnten sie verblüffende Dinge herausfinden. So ist beispielsweise vor zwischen 31.000 und 79.000 Jahren auf einem Y-Chromosom etwas passiert, was heutige Genetiker M168 nennen. In der weiblichen Linie heißt das mitochondriale Gegenstück L3, das vor 50.000 bis 60.000 Jahren entstanden ist. Das musste schon auf der Wanderung passiert sein, denn nur Menschen außerhalb von Afrika tragen diese Merkmale. Und einige Menschen in Äthiopien und Sudan – nur dadurch wissen wir, dass da einige den Weg über das Rote Meer zurück nach Afrika gefunden haben. Kurz nach L3 sind zwei weitere Mutationen passiert: Fast alle australischen Ureinwohner tragen sie in sich, wie auch 20 Prozent der Menschen in Indien. Und so könnten wir noch lange damit fortsetzen, was uns da die Genetiker alles auftischen. So folgt im Y-chromosomalen Stammbaum auf den erwähnten M168 Marker ein weiterer, den man M130 nennt. Westlich des Kaspischen Meers tritt er gar nicht auf (somit haben es die Nachkommen dieses Mannes nie nach Europa geschafft), in Indien findet man ihn bei fünf Prozent der Männer, in Malaysia zu zehn Prozent, zu 15 auf Neu-Guinea und zu 60 unter den australischen Aborigines. Der Leser kann sich vorstellen, wie kompliziert all das ist, aber auch welch ungeahnte Möglichkeiten diese Forschung bietet. Sie liefert Antworten, die wir sonst niemals bekommen könnten. Auch wenn wir vielleicht nie alle Details restlos klären werden können, die Wanderungsbewegung von Homo sapiens durch Südasien in Richtung Australien ist klar nachweisbar.
Wasserfahrzeuge erobern Ozeane und Inseln
Einmal mehr müssen wir zu den globalen Schwankungen des Meeresspiegels zurückkommen. Denn irgendwann haben die wandernden Sippen die Spitze der heute langgezogenen Malaiischen Halbinsel erreicht, diese schmale Fortsetzung des Festlandes von Südostasien. Wir würden hier heute ohne ein Wasserfahrzeug nicht weiterkommen: die Andamanensee im Westen, die Straße von Malakka im Südwesten, die Straße von Johor im Süden, dann die Straße von Singapur, der Golf von Thailand und das Südchinesische Meer. Doch keine Spur davon in den damaligen Kaltzeiten - heutige Karten dürfen uns nicht irritieren. Nicht vor einem Wirrwarr von Landzungen, Kanälen und unzähligen Inseln sind unsere Ahnen gestanden, sondern vor einer zusammenhängenden Landmasse, welche wir Sunda nennen. Die heutigen Inseln Sumatra, Borneo, Java, Palawan und zahlreiche kleinere Inseln Südostasiens bildeten mit Hinterindien den asiatischen Kontinent. Die sonst vom Meer bedeckten Kontinentalschelfe wurden zum trockenen Land. Und unsere Vorfahren machten einen riesigen Schritt in Richtung ihrer neuen Heimat. Doch spätestens an der Ostspitze von Java oder auf Bali ging es zu Fuß nicht mehr weiter.
Jenseits des Horizonts lag ein weiterer Kontinent, dem unsere Wissenschaftler den Namen Sahul gaben. In ihm vereinigten sich Australien mit Neuguinea wie auch mit einem riesigen Schelf dazwischen. Künftige Biogeographen sollten ihre Freude mit dieser Region haben: Hier verläuft die berühmte Wallace-Linie, welche zwischen Bali im Westen und Lombok im Osten die biogeografische Übergangszone zwischen asiatischer und australischer Flora und Fauna nachzeichnet. Die Beuteltiere finden sich nur östlich davon, dafür leben dort keine placentalen (höheren) Säugetiere (außer Fledermausartigen). Die Barriere musste also äußerst wirkungsvoll gewesen sein. Nur Homo sapiens konnte diese harte Nuss dank seiner Erfindungsgabe knacken.
Zwischen Sunda und Sahul lag also trotz all der Inselarchipele Indonesiens immer noch die Bandasee. Auf der Karte vielleicht nicht allzu groß aussehend, aber von West nach Ost immerhin etwa 1.200 Kilometer breit, und mit einem Tiefseebecken von bis zu 5.800 Metern versehen. Der tiefste Graben der Bandasee, das Webertief, erreicht gar 7.440 Meter Tiefe. Bei diesem Becken nutzen auch keine Schwankungen des Meeresspiegels um „mickrige“ 100 Meter mehr – die können die Distanzen zwischen den Landmassen lediglich geringer machen. Da hilft nur ein Wasserfahrzeug. Wie es genau ausgesehen hat, werden wir wohl nie erfahren – da müsste schon ein beträchtliches archäologisches Wunder geschehen, reden wir doch von einer Zeit, die nach den neuesten Publikationen in Nature 47.500 bis 55.000 Jahre zurückliegt. Fernab sichtbarer Küsten haben die Menschen der damaligen Zeit die hohe See befahren. Ein Boot oder Floß der Uraustralier zu entdecken – das würde doch die Kenntnisse der Geschichte der Seefahrt revolutionieren.
Die ungewöhnlichsten Aspekte helfen den Wissenschaftlern die Routen der Besiedlung der Welt besser zu rekonstruieren. Etwa das gefürchtete Magenbakterium Helicobacter pylori, das weltweit sehr vielen Menschen zusetzt. Wie eine im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichte Studie aufzeigte, lassen verschiedene Stämme des Bakteriums in unterschiedlichen menschlichen Populationen folgende Schlüsse zu: Der Pazifische Raum wurde in zwei prähistorischen Migrationswellen besiedelt. Die erste erreichte Neuguinea und Australien und trug den Stamm von Helicobacter pylori hpSahul in sich, der sich vor 31.000 bis 37.000 Jahren abspaltete. Eine andere Population mit dem Bakterienstamm hspMaori, der sich vor 23.000 bis 32.000 Jahren formiert hat, erreichte etwas später Melanesien und Polynesien.
Wie knackt man den größten Ozean der Welt?
Noch versuchen die Archäologen und Anthropologen verschiedene Widersprüche zu klären. Archäologische Beweise sprechen davon, dass Menschen Ozeanien vor spätestens vor 55.000 bis 47.500 Jahren erreicht haben. Anthropologische Studien aufgrund unterschiedlicher Skelettfunde wiederum scheinen anzudeuten, dass die Besiedlung Sahuls in mindestens zwei Wellen erfolgt sei. Dafür scheint auch die Art der Steinwerkzeuge, linguistische Studien und das Einschleppen des Hundes Dingo zu sprechen. Auf der anderen Seite deutet die einzige umfangreiche genetische Studie der Aborigines und Papuas an, dass nur eine Besiedlungswelle Sahuls erfolgt ist. Erst danach kam es zur genetischen Aufspaltung und Diversifikation, da einzelne Stämme über lange Zeiten in ziemlicher Isolation voneinander gelebt haben.
Doch mit Sahul war es nicht getan, jetzt erst erstreckte sich vor unseren dunkelhäutigen Vettern in alle Richtungen der allergrößte und tiefste Ozean der Erde. Erst zehntausende Jahre später sollte ein gewisser Ferdinand Magellan ihn Mar Pacifico taufen, Friedliche See, weil an dem Tag, als er auf seiner Weltumsegelung aus der Magellanstraße kommend vom Osten her die Meeresfläche erreichte, sie zufällig ihr friedliches Gesicht zeigte, nach Tagen furchtbarer Stürme davor.
Es galt, was Ernst Ferstl später in diesem Aphorismus zusammengefasst hat: Jedes erreichte Ziel ist ein hervorragender Startplatz für weiteren Aufbruch zu neuen Ufern. Welche Herausforderung es war, konnten die Vorfahren der Ozeanier nicht einmal erahnen: 181,34 Millionen Quadratkilometer Meer, 35 Prozent der gesamten Erdoberfläche, die Hälfte der Meeresfläche der Erde und damit mehr als die Fläche aller Kontinente zusammen, 714,41 Millionen Kubikkilometer salziges, untrinkbares Wasser, mehr als die Hälfte allen Wassers des Planeten. Mehr als 15.000 Kilometer waren es in das unbekannte Amerika weit im Osten.
An so einem außergewöhnlichen Ufer also standen wiederholt Menschen und sahen auf das endlose Meer. Dass es zehntausende Jahre später eine Berufsgruppe namens „Geograph“ geben sollte, die behauptete, eigentlich handle es sich um ein „Land“, das sie dann Ozeanien taufen würden, immerhin 7.500 Inseln mit insgesamt 1,3 Millionen Quadratkilometern, war damals irrelevant. Über ein Meeresgebiet von 70 Millionen Quadratkilometern verstreut lösen sich die kleinen Inseln zum reinen Meer auf, oder doch nicht? Tja, eigentlich nicht. Denn so unglaublich es ist, unsere Vettern fanden ohne jede Satellitennavigation und ohne Karten, die damals freilich noch nicht existieren konnten, den Weg zu letztlich etwa 2.100 der Inseln, etwas weniger als einem Drittel ihrer Gesamtzahl. Heute leben in Ozeanien, oder auch Südsee, wie die Region romantisiert gern genannt wird, der Inselwelt des Pazifiks nördlich und östlich von Australien, 16,5 Millionen Menschen.
Mehr nach kulturellen als nach strickt geographischen Gesichtspunkten wurden die pazifischen Inselwelten in drei Regionen unterteilt: Melanesien (mit Neuguinea in der Mitte, der zweitgrößten Insel der Welt), Mikronesien nördlich davon und schließlich Polynesien, dieses riesige Meeresgebiet, das im Südwesten bis nach Neuseeland reicht, im Norden erst mit Hawaii endet und weit im Osten mit den Osterinseln (Rapa Nui) schon so etwas wie einen Vorposten des amerikanischen Kontinents bildet.
Hinterm Horizont geht’s weiter
Die erste große maritime Migration erfolgte somit wohl vor etwa 55.000 Jahren nach Sahul-Australien (einige Spekulation darüber, dass es vielleicht auch schon viel früher sein konnte, finden sich weiter unten), obwohl der Zeitpunkt, an dem die indigene Bevölkerung Australien definitiv erreichte, nicht geklärt ist. Fundstelle bezeugen aber, dass diese Menschen Werkzeuge verwendeten und Kunstwerke schufen. Die Möglichkeit einer frühen Seefahrt bleibt derzeit das einzig denkbare Modell. Irgendwelche Wasserfahrzeuge musste der Mensch verwendet haben. Vielleicht waren es Flöße aus dem in Südostasien allgegenwärtigen Bambus. Der australische Archäologe mit österreichischen Wurzeln Robert Bednarik baute 1998 ein solches Floß aus Bambus, Palmblättern, Teakholz und Seilen aus Pflanzenfasern. In 13 Tagen segelte er mit seinem abenteuerlustigen Team nach Australien. Oder handelte es sich um irgendwelche Kanus oder Einbäume?
Große Meeresbereiche mussten die Menschen im Laufe ihre Migration nur selten überwinden. Die Beringstraße bildete in den Kaltzeiten keine große Barriere und fiel wohl ganz trocken, so dass Menschen aus Asien nach Amerika hinüberspazieren konnten, wie es bereits im Fall des Auszugs aus Afrika bei Bab el-Mandeb im Süden des Roten Meeres war.
Hoch im Norden half den Vorfahren der Eskimos und Inuits bestimmt die Eisdecke: Vor 4.000 – 5.000 Jahren breiteten sich die Paläo-Eskymos nach Osten und später bis nach Grönland aus, vor 3.000 bis 4.000 Jahren folgte die Inuit Expansion auf einer nur geringfügig südlicheren Route. Nur den südlichen Kontinent Antarktika hat der Mensch nie erreicht. Kein Wunder, wenn man die furchteinflößenden Bedingungen in den roaring forties, die brüllenden oder donnernden Vierziger (gemeint sind damit die südlichen Breitengrade), die furious fifties (Wütende Fünfziger) und die screaming sixties (Heulende Sechziger) kennt. Die konstanten Westwinddriften sorgen für unbeständiges Wetter, Regen, hohen Seegang und häufige Stürme – nichts für prähistorische Abenteurer ohne moderne Ausrüstung. So weit reichte also die Abenteuerlust des Menschen doch nicht, um in der kalten Terra australis eine neues Leben zu suchen. Genug tierische Proteine hätte es dort bestimmt gegeben. Doch könnte es auch eine unbekannte Zahl stummer Opfer des Südlichen Ozeans geben, die weit vorgestoßen sind, doch ihre dramatische Geschichte nie werden erzählen können.
Sollte die alternative Route quer durch den Pazifik aus Ostasien nach Südamerika unbestätigt bleiben (wie auch andere Theorien von großen Seefahrten in verschiedenen Richtungen wie jene von Thor Heyerdal und anderen), dann würde die Besiedlung Ozeaniens das größte maritime Abenteuer in der Geschichte der Menschheit bleiben. Es begann erst viele zehntausend Jahre nach dem Erreichen Australiens, nämlich vor 3.000 bis 5.000 Jahren (inklusive eines möglichen Kontakts nach Südamerika). Viele der Südseeinseln wurden aber noch viel später erreicht, zum Teil erst im letzten Jahrtausend. So wurde Neuseeland nach derzeitigem Stand des Wissens Mitte des 12. Jahrhunderts wahrscheinlich durch Seefahrer von den zentralpazifischen Gesellschafts- und südlichen Cook-Inseln besiedelt. Sie gelten als nächste Verwandte und Ahnenvölker der neuseeländischen Maori. Einige Forscher machten auf die „mittelalterliche Klimaanomalie“ zwischen 800 und 1300 unserer Zeitrechnung im pazifischen Raum aufmerksam, die für über viele Jahrzehnte hinweg stabile Windverhältnisse sorgte. Vor dem Wind segelnde Kanus konnten sich somit in bestimmte Richtungen ausbreiten. Und dann drehten sich die Windrichtungen im Stillen Ozean wieder völlig um, und neue Besiedlungsrouten konnten eingeschlagen werden. Somit kam es nicht nur auf die Technologie des Bootsbaus, der Takelage und der Segel an, sondern auch auf „etwas Glück“ und das Klima an. Die Form der Boote ist zwischenzeitlich relativ gut bekannt: Es waren hochseetüchtige Doppelrumpfkanus oder Auslegerboote mit einfachen Dreiecksegeln, welche die Siedler über den Pazifik trugen. Das war das letzte und womöglich doch das allergrößte nautische Abenteuer der Menschheit. Doch sicher wissen wir es nicht – vielleicht hat es viel frühere und noch um einiges abenteuerlichere gegeben.
Was wir trotz vieler Lücken sicher wissen: Die Ozeane wurden zu Brücken und selbst ihre gigantischen Dimensionen und die monströsen Kräfte ihrer Elemente konnten die Ausbreitung der Menschen nicht stoppen. Zumindest nicht die Ausbreitung unserer Spezies. Auf Einzelschicksale kam es dabei nicht an – Seefahrer aller Zeiten wurden zu hunderttausenden auf Nimmerwiedersehen vom Meer verschluckt.
War bereits Homo erectus ein Seefahrer?
Der Platz reicht leider nicht aus um über mögliche Seefahrtabenteuer des Homo erectus zu diskutieren. Hat er schon vor 800.000 Jahren das offene Meer befahren, wie der deutsche Biologe Matthias Glaubrecht in einem Artikel der Bild der Wissenschaft im Jahr 2000 schilderte, und Inseln wie Flores und Timor erreicht? Dort, jenseits der Wallace-Linie und eines Meereskanals, der in den Frühzeiten der Menschenwerdung schon längst da war, fand man Steinwerkzeuge, die darauf hindeuten könnten.
Eine der größten Sensationen in Bezug auf frühe Seefahrt stammt nicht etwa aus Australien, sondern aus dem Mittelmeer. Lange Zeit nahm man an, dass die allerältesten Besiedlungen mediterraner Inseln – und damit auch irgendeiner Form der Seefahrt – 10.000 bis 12.000 Jahre alt sind. Doch 2008 bis 2009 fand ein griechisch-amerikanisches Archäologenteam bei Plakias und Preveli im Süden Kretas Steinwerkzeuge, die hier niemand erwartet hätte. Sie sind dem so genannten Acheuléen zuzuordnen, einer archäologischen Kultur der Altsteinzeit, die durch die Existenz von Faustkeilen definiert ist und stammten eindeutig nicht von Kreta. Ihr Alter wurde mit mindestens 130.000 Jahren datiert; vielleicht sind sie sogar noch wesentlich älter. Kreta war seit Millionen Jahren von jedem Festland getrennt, selbst während der tiefsten globalen Stände des Meeresspiegels, die wir sie an anderer Stelle besprechen. Der einzige mögliche Weg ist der über das Meer, auf einfachen Wasserfahrzeugen wie Flößen oder – was nicht ausgeschlossen werden kann – riesigen Baumstämmen. Und das zu einer Zeit, als es in Europa angeblich noch gar keine Homo sapiens gegeben hat. Derzeit bleibt uns leider nichts anderes übrig als geduldig auf weitere Erkenntnisse zu warten um mehr über diese faszinierende Geschichte zu erfahren, die alles auf den Kopf stellen würde, was man bisher von der Seefahrt dachte.
Die Geschichte der Menschheit ist wohl noch komplizierter als wir früher dachten
Unser Wissen über die Anfänge, den ursprünglichen Exodus, ist mit Unsicherheiten behaftet, hielten wir in der Einführung zu diesem Kapitel fest. Wir sollten offen für neue Einsichten sein, denn neue archäologische Funde könnten unsere derzeitigen Vorstellungen jederzeit auf den Kopf stellen. Nur eine Meldung aus den Medien vom Mai 2017 als Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung. Ein Unterkiefer aus Griechenland und ein Backenzahn aus Bulgarien könnten alles auf den Kopf stellen, was wir bisher zu wissen glaubten. Liegt die Wiege der Menschheit stattdessen auf dem Balkan? Denn Graecopithecus freybergi lebte dort vor 7,2 Millionen Jahren, wie Datierungen des Sediments zeigten. Und die bislang einzigen Fundstücke der rätselhaften Menschenaffenart stellen alles Bisherige auf den Kopf. Bisher dachte man, dass sich die Wege von Schimpansen und der zu Menschen führende Linie vor etwa sechs Millionen Jahre trennte. Und das freilich in Afrika. Sowohl der gefundene Zahn als auch der Kiefer sind älter als der bisher älteste aus Afrika bekannte Vormensch Sahelanthropus, den man auf sechs bis sieben Millionen Jahre datiert hat. Der Lebensraum, in dem unser Vorfahre lebte, ähnelte einer Savanne, mir feinem rötlichen Gestein, wie man es im Wüstenstaub findet und mit hohem Gehalt unterschiedlicher Salze.
Dessen Ursprung sei vermutlich Nordafrika. Bliesen Wüstenstürme rote, salzhaltige Stäube bis an die Nordküste des damaligen Mittelmeeres, wo sich eine europäische Sahara erstreckte? Offenbar prägten Savannen zu Urzeiten den Balkan, in denen zusammen mit Graecopithecus typische Pflanzen, Giraffen, Gazellen, Antilopen und Nashörner lebten. Auch Hinweise auf regelmäßige Brände fanden die Paläontologen.
Geheimnisvolle Funde, die nicht zum etablierten Bild passen, gibt es mehrere, versteinerte Menschen-Zähne aus China etwa, die 80.000 Jahre alt sind. Und zu Jahresbeginn 2017 wurde ebenfalls bekannt, dass sich bei Melanesiern, jenen Menschen, die auf den Inseln zwischen Australien und Neuguinea leben, genetische Hinweise auf eine dritte, bisher unbekannte Menschenart finden. Schon seit einigen Jahren ist bekannt, dass sich Homo sapiens mit dem Neandertaler vermischt hat, in Asien dann ebenso mit einem Verwandten von uns, den wir Denisova-Mensch nennen. Doch von einem dritten Vetter, irgendeinem Cousin des Neandertalers, wussten wir bisher gar nichts. Bisher hat man auch nichts von ihm gefunden – bis auf jene neu entdeckte Gene in manchen Melanesiern. Die Geschichte der Menschheit ist noch viel komplizierter als wir jemals dachten, sagte einer der Forscher.
Die Out of Afrika – Geschichte könnte noch verworrener sein als sie es ohnehin schon ist. Haben manche unserer Vorfahren Europa schon viel früher erreicht als bisher gedacht? Haben dann manche Hominiden Europa nicht nur über die Landbrücke des Nahen Ostens erreicht, sondern auch über Langstrecken-Seefahrt über das Mittelmeer und mit Zwischenstopp auf Kreta, Zypern und vielleicht noch weiteren Inseln? Die Behauptung des nächsten Kapitels, das Mittelmer sei als Non plus ultra die faszinierendste Region der Welt, wäre damit um eine Nuance reicher.
(c) Robert Hofrichter, 2017