Weihnachten, der historische Jesus und was ein Biologe dazu sagt

Geschichtliche Streifzüge durch die Weihnachtszeit


Text: Robert Hofrichter

Lektorat: Christina Widmann


Passend zur Weihnachtszeit wiedergebe ich hier Auszüge aus meinem neuesten Buch „Das Mittelmeer und der liebe Gott“. Sie handeln von Jesus: Was kann man als gebildeter Mensch des 21. Jahrhunderts glauben von den Geschichten über ihn? Was sagen Historiker dazu? Und woher wissen die Wissenschaftler, was sie zu wissen glauben?



Der „Salvator Mundi“ von Gian Lorenzo Bernini steht heute in einer Kirche in der Via Appia in Rom.


Es ist nur konsequent, dass Nicht-Christen oft meinen, Jesus hätte es gar nicht gegeben. Aber wenn man die Schichten der Religion wegschält, bleibt durchaus ein historischer Kern übrig: Jesus aus Nazareth, ein Mann, der wahrscheinlich die Hälfte von dem nicht verstünde, was heute in seinem Namen gepredigt wird. Wissenschaftler nennen ihn den historischen Jesus. Der Stifter der größten Religion aller Zeiten – doch wollte er überhaupt eine Religion stiften?

Fragen über Fragen. Bevor ich mit meinen Antworten loslege, schulde ich den Leserinnen und Lesern eine ehrliche Erklärung: Ich bin Biologe und damit Naturwissenschaftler, kein Theologe und auch kein studierter Historiker. Doch habe ich mich mein ganzes Erwachsenenleben lang stark für Geschichte interessiert, und hier insbesondere für alles, was mit dem Mittelmeerraum zusammenhängt. Da gehören das Judentum mit seinem Monotheismus, Jesus und das Christentum untrennbar dazu. Ich kann versichern, dass ich meine Antworten nach bestem Wissen und Gewissen präsentiere, nachdem ich über Jahrzehnte unzählige Quellen gelesen und unzählige Experten mit ihren pro und contra-Debatten angehört habe. Dennoch oder gerade deswegen weiß ich, dass ich keine unveränderlichen Wahrheiten zu verkünden habe, sondern den heutigen Stand des Wissens. Ich erzähle Ihnen, wie es gerade aussieht. Sollten neue Daten und zutreffendere Befunde auftauchen, werden wir unsere Meinung noch ändern müssen.

Nazareth, jene kleine Stadt, aus der Jesus wahrscheinlich stammte.


Hat Jesus existiert?

Ja. Da sind sich die meisten Experten einig. (In diesem Fall sind das die Universitätsprofessoren für das Neue Testament und weitere Forscher.) Es gibt auch eine Gegenseite, aber ihre Thesen lassen sich nicht halten.

Im Vergleich zu manchen anderen berühmten Gestalten der Religionsgeschichte ist Jesus aus Nazareth historisch gut abgesichert: Wir wissen viel mehr Konkretes über Jesus als beispielsweise über Buddha, Kung Fu-tse (Konfuzius) oder Lao-tse. Die Einzelheiten lassen sich überprüfen: Die Römer schrieben auf, wer wann wo Statthalter war und so weiter.

Römische Quellen aus dem ersten Jahrhundert erwähnen Jesus kaum oder gar nicht, das stimmt. Für sie war er ein Wanderprediger unter vielen in einer unbedeutenden Provinz am Rand des Reiches; in Rom sprach kein Mensch von ihm. Aber 20 Jahre später reiste Paulus bereits mit der Geschichte von Jesus in verschiedene Städte am Mittelmeer. In Jerusalem lebte eine rege Christengemeinde. Damals hätte niemand diesen Jesus erfinden können, denn es lebten noch zu viele Menschen, die zur fraglichen Zeit in Jerusalem waren. Sie hatten von den wichtigeren Wanderpredigern gehört und müssen die Geschichte von Jesus bestätigt haben, sonst hätte sie sich nicht weiter verbreitet. Und verbreitet hat sie sich: Innerhalb von weniger als 300 Jahren war jeder zweite Bürger des Imperiums bereits Christ.

Wie der berühmte Theologe Hans Küng formulierte: „Der Weg führte offensichtlich von der Geschichte zum Mythos und nicht vom Mythos zur Geschichte“. Küng umreißt hier in einem Satz die ganze Geschichte: Eine reale historische Gestalt führte zur Entstehung unzähliger Mythen. Einen solchen Mythos wollen wir hervorheben: Der historische Jesus hielt sich nicht für Gott persönlich, auch wenn es im Johannesevangelium (wohl mindestens 70 Jahre nach dem Tod Jesu geschrieben) so angedeutet wird. Erst eine spätere theologische Entwicklung – die der Trinitätslehre – machten ihn im Laufe der ersten Jahrhunderte dazu.


Frauen aus Betlehem auf einem Foto aus dem 19. Jahrhundert. Die Weihnachtsgeschichten über Betlehem, die Krippe, den Bösen Herodes, der alle Kleinkinder töten ließ, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Legenden.


Welche Quellen über den historischen Jesus haben wir?

Über Jesus aus Nazareth haben wir mehr Quellen als über die allermeisten anderen Gestalten der Antike. Sie alle sind entweder im Neuen Testament, der Bibel der Christen zu finden, oder aber in anderen Evangelien und Glaubenszeugnissen, die es nicht in das Neue Testament geschafft haben. Es gibt unzählige solche Bücher; Historiker nennen sie Apokryphe oder deuterokanonische Schriften. Viele von ihnen wurden beispielsweise in der Naq Hamadi-Bibliothek (https://de.wikipedia.org/wiki/Nag-Hammadi-Schriften) gefunden.

Allgemein hält man die ältesten Schriften für die historisch zuverlässigsten. Das älteste Evangelium im Neuen Testament ist das nach Markus (diese Bezeichnung ist späteren Datums, in den alten Manuskripten steht sie nicht und wir können nicht sagen, wer der Autor wirklich war). Es wurde um das Jahr 70. N. Chr. geschrieben, somit etwa 40 Jahre nach dem Tod von Jesus. Matthäus und Lukas sind jeweils mit etwa 10 Jahren zeitlichem Abstand entstanden, sie haben beide sehr viel von Markus abgeschrieben. Diese drei Evangelien werden als synoptisch bezeichnet, da sie im Inhalt und Aufbau sehr ähnlich sind. Eine weitere, davon unabhängige Quelle ist das Johannesevangelium, das eine andere Linie der Überlieferung verkörpert und etwa um das Jahr 100 n. Chr. entstand.

Älter als die Evangelien sind die Paulusbriefe, welche etwa ab dem Jahr 50 n. Chr. entstanden sind. Paulus war zwar kein Augenzeuge, ist aber bereits wenige Jahre nach dem Tod Jesu zum Glauben an ihn gekommen. Außerdem hat er persönlich Petrus gekannt und auch mindestens einen, wahrscheinlich mehrere Brüder von Jesus. (Ja, der historische Jesus hatte wahrscheinlich vier Brüder und mindestens zwei Schwestern). Von den dreizehn Paulusbriefen des Neuen Testaments gelten sieben für authentisch, also tatsächlich von Paulus geschrieben. Leider liefert Paulus kaum biographische Daten. Es entsteht der Eindruck, dass Paulus über das Leben des historischen Jesus wenig wusste, obwohl er die Apostel und Verwandte Jesu traf und sie hätte ausfragen können. Oder dass Paulus es aus theologischen Gründen nicht für wichtig hielt, näher auf das irdische Leben Jesu einzugehen.

Zusammenfassend: Wir haben drei unabhängige Quellen über den historischen Jesus: die Paulusbriefe, bereits 20. Jahre nach Jesus Tod geschrieben; Markus und die Synoptiker; und Johannes.


Der See Genezareth hat im Leben des historischen Jesus eine wichtige Rolle gespielt.


Welche sind die außerbiblischen Quellen über Jesus?

Es gibt eine ganze Liste weiterer Evangelien und Briefe, die nicht zur Bibel zählen. Sie unterschieden sich zu sehr von den anerkannten Evangelien, sind stark mythologisch ausgeschmückt und enthalten teilweise Anleihen aus der griechisch-römischen Sagenwelt.

Genauso gibt es eine Reihe apokrypher „Taten von …“ analog zur kanonischen Apostelgeschichte, beispielweise die „Taten von Johannes“ (spätes 2. Jh. n. Chr.), und eine Menge weiterer Briefe. All diese Schriften mögen Hinweise auf tatsächliche historische Ereignisse und Personen enthalten, doch sind die übergelagerten legendären Schichten zu mächtig, um es noch entscheiden zu können. So taucht in den „Taten“ beispielsweise Simon der Magier auf, einer der ersten Ketzer oder Häretiker der Kirchengeschichte.

Die schiere Menge an Schriften, die sich gegenseitig mal bestätigen und mal widersprechen, sagt uns etwas Wichtiges über das frühe Christentum: Es entstand an vielen Orten gleichzeitig. Die Geschichten über Jesus wurden mündlich weitererzählt und dabei oft genug abgewandelt und ausgeschmückt.




Der Jordan und die Taufe Jesu durch den Bußprediger Johannes den Täufer. Diese Episoden werden von Historikern als geschichtlich angesehen.

Ist der 24. Dezember der Geburtstag von Jesus?

Die Antwort muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lauten: Nein. Dass Jesus in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember im Jahre 0 zur Welt gekommen ist, ist zweifellos ein Märchen. Denn ein Jahr 0 existiert in der Geschichte nicht.

Nicht einmal den Geburtsort wissen wir sicher: Das wahrscheinlich älteste Evangelium, das nach Markus, beginnt mit einem erwachsenen Jesus, der sich von Johannes taufen lässt. Markus schreibt immer wieder „Jesus aus Nazareth“; wahrscheinlich wurde der Prediger dort geboren.

Matthäus und Lukas behaupten, es war Bethlehem. Sie wollen eine Prophezeiung aus dem Alten Testament erfüllt sehen und verrenken ihre Geschichte, bis sie passt. Glauben wir ihnen kurz und lesen weiter: Der Hinweis, dass die Hirten nachts draußen waren, deutet eher nicht auf den tiefsten Winter hin. Und ein genaues Datum nennt keiner der beiden.

Zurück zum Weihnachtsfest. Die ersten Christen feierten keines. Erst, als sich das Christentum im römischen Reich ausbreitete, taucht das Fest auf. Warum? Die allerersten Christen waren geborene Juden, und Geburtstage zu feiern hatte bei ihnen damals nicht den Stellenwert wie heute bei uns oder damals beispielsweise bei den Römern.

Die Römer aber feierten zur Zeit der Wintersonnenwende das Fest des Sonnengottes Sol Invictus, die Wiedergeburt der unbesiegten Sonne. Außerdem fanden im Dezember die Saturnalien statt, ein Fest mit Geschenken und Gelage. Da sich das Christentum im Römischen Reich herauskristallisiert hat, wurden wahrscheinlich die Sitten und Bräuche der Römer unter anderem Namen in die frühe Kirche übernommen.

Die späteren Weihnachtsbräuche – Adventskranz, Krippe, Tannenbaum – haben sich erst im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und viele sind jünger, als man meinen würde. Der Adventskalender mit Türchen kommt zum Beispiel aus dem 19. Jahrhundert.



Das Imperium Romanum, die erste globalisierte Welt als Schauplatz der Entwicklung von vielen unterschiedlichen Christentümern. Ein einheitliches, homogenes „Urchristentum“ mit einer einheitlichen Lehre hat nie existiert.


Etwas Genealogie: Wer waren die Vorfahren Jesu?

Um es ganz offen zu sagen: Das wissen wir nicht. Denn die Evangelien sind keine historischen Tatsachenberichte, und in diesem Fall klingen sie allzu unwahrscheinlich. Zwei Evangelisten geben uns Stammbäume, die zig Generationen zurückreichen: Bei Matthäus bis zu Abraham, bei Lukas bis zu Adam. Und das lange vor der Erfindung der Geburtsurkunde.

Wissen Sie, wer ihre Vorfahren vor 1.000 Jahren waren? Mit ziemlicher Sicherheit nicht. Auch Joseph, der Ehemann Marias, wusste seine Vorfahren wahrscheinlich höchstens bis zum Urgroßvater zurück und nicht bis zu Adam und Eva.

Warum die erfundenen Stammbäume? Matthäus schrieb für Juden und wollte ihnen beweisen, dass Jesus der verheißene Messias des Alten Testaments war. Er musste von König David abstammen und aus Betlehem kommen. Entsprechend liefert Matthäus seinen Lesern einen Stammbaum und eine Geschichte, laut der Joseph und Maria in Betlehem wohnten, aber vor dem König Herodes nach Ägypten fliehen mussten. Als sie sich trauten, in ihr Land zurückzukehren, gingen sie sicherheitshalber nach Nazareth statt nach Betlehem.

Bei Lukas ist die Geschichte noch unwahrscheinlicher: Joseph soll zwar in Nazareth gewohnt haben, aber musste zur Volkszählung in die Stadt seiner fernen Vorfahren zurückkehren. Das klingt schon deshalb unwahrscheinlich, weil es den römischen Volkszählern in Wahrheit egal gewesen wäre, ob sich Joseph in Nazareth oder in Betlehem eintragen ließ. Der Zimmermann wäre nicht mit seiner hochschwangeren Frau durchs halbe Land gereist, sondern hätte sich dort zählen lassen, wo er wohnte.



Ein Bild, das für die ersten Christen und Jesus selbst (bzw. seiner Mutter) sehr befremdlich wäre. In der Bibel selbst finden wir noch keine Spur eines Marienkultes.


Die Mutter Jesu: Unbefleckt?

Kaum eine andere biblische Gestalt wandelte sich im Laufe der Zeit so stark wie Maria, die Mutter Jesu. Sie wurde um- und ausgedeutet, bis sie die Position einer antiken Göttin erlangte. Die ganze Frömmigkeits-, Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte ist durch Maria in einem derart starken Ausmaß geprägt, dass es Menschen aus einem solchen religiösen Kulturkreis als natürlichste Sache der Welt vorkommt, sie so hinzunehmen, wie man sie aus einer (vor allem katholischen) Kirche kennt.

Der berühmte amerikanische Schriftsteller und Journalist Mark Twain, ein Protestant, lästerte bei seiner „Reise durch die Alte Welt“ über den katholischen Marienkult: „In allem Ernst, ohne leichtfertig sein zu wollen, ohne unehrerbietig sein zu wollen, und vor allem, ohne gotteslästerlich sein zu wollen, stelle ich als meine einfache Schlussfolgerung aus den Dingen, die ich gesehen und gehört habe, fest, dass die heiligen Persönlichkeiten in Rom ihre Plätze in folgender Rangordnung einnehmen: Erstens: „Die Muttergottes“ – auch Jungfrau Maria. Zweitens: Gott. Drittens: Petrus. Viertens: etwa zwölf bis fünfzehn kanonisierte Päpste und Märtyrer. Fünftens: Jesus Christus, unser Heiland – (aber immer als kleines Kind im Arm der Mutter).“

Wir suchen nach den historischen Wurzeln von religiösen Lehren, und im Neuen Testament finden wir folgendes: Paulus ewähnt ein einziges Mal die Mutter Jesu. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen“ (Galater 4, 4–5). Von einer Jungfrau, die ohne Erbsünde ist, erzählt Paulus nichts.

Die Evangelien sind ebenfalls recht vage. Eine genaue Biographie von Maria zu konstruieren ist fast noch schwerer als von ihrem Sohn. Da liegen so unendlich viele Ebenen darüber, der Staub von Jahrtausenden, dass die historische Maria hoffnungslos unter diesen Schichten verborgen verbleibt. Soviel aber wird der Spurensuche nach den Wurzeln der Religionen rund um das Mittelmeer klar: Seit früher Zeit finden sich in allen Religionen aller Völker Hinweise für die Verehrung des weiblichen Elements. Wie es aussieht, hat der Marienkult all die Göttinnen-Kulte rund ums Mittelmeer ersetzt und aufgenommen.

Übrigens: Sowohl die kanonischen Schriften des Neuen Testaments als auch die außerbiblischen Quellen der Apokryphen schildern Jesus in seinem Umgang mit Frauen als völlig ungezwungen. Jesus verhielt sich allem Anschein nach nicht als typischer Patriarch des jüdischen Establishments. Einige Dialoge zwischen Jesus und Frauen, die in den Evangelien erhalten sind, lesen sich recht unideologisch und entspannt.


Was ist über die Kindheit des historischen Jesus bekannt? Was kann man von all den überlieferten Weihnachtsgeschichten glauben?

Über die Geburt und Kindheit Jesus berichten ausschließlich Matthäus und Lukas; die anderen beiden Evangelisten beginnen ihre Erzählung mit einem erwachsenen Prediger. Legen wir die Weihnachtsgeschichten von Matthäus und Lukas nebeneinander, wird klar, dass sie unmöglich gleichzeitig wahr sein können. Am wahrscheinlichsten ist, dass beide Geschichten erfunden sind.

Jesus ist vermutlich in Nazareth geboren, irgendwann um die Zeitenwende. Matthäus legt die Geburt in die Regierungszeit des Herodes, Lukas ins Jahr der Volkszählung. Diese fand wirklich statt, aber erst zehn Jahre nach Herodes' Tod.

Lukas erzählt uns außerdem eine Geschichte über den zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk, 2,41ff, https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Lukas), doch haben wir dafür keine weiteren Zeugen. Und über das junge Erwachsenenleben des historischen Jesus wissen wir überhaupt nichts.

Doch haben sich in den vielen Christengemeinden einige Menschen für die Kindheit Jesu interessiert: Konnte er damals schon Wunder wirken? Wir finden eine Reihe von Geschichten über den jungen Erlöser in den Apokryphen. Das „Kindheitsevangelium nach Thomas“ handelt von nichts anderem als von den angeblichen Wundern des Jesuskindes. Es sind Heilungen, harmlose Streiche, aber auch schlimme Geschichten. In manchen erscheint Jesus derart bösartig und destruktiv, dass zu unserem Bild von ihm überhaupt nicht passt.

Ehrlich gesagt: Manche der Episoden erinnern stark an Szenen aus Harry Potter. Jene etwa, in der Jesus im Alter von sechs oder sieben Jahren mit seinen Freunden in einer verlassenen Lehmgrube Vogelfiguren bastelt. Doch ist gerade Sabbat und ein alter Rabbi beschimpft die Kinder, weil man an diesem Tag nicht arbeiten und auch nicht basteln soll. Als der Alte die Lehmfiguren zerstören will, macht sie Jesus lebendig und sie fliegen laut schreiend davon. Das ist eine der netteren Episoden.

In einer Geschichte wird er beschuldigt, ein Nachbarskind vom Dach geschubst zu haben, das dann stirbt. Doch Jesus erweckt es wieder zum Leben und es bezeugt, dass Jesus unschuldig sei, weil es einfach nur aus Versehen gestürzt ist. Harmlose Episoden gibt es weitere, etwa jene, in der Jesus einen Wasserkrug zerbricht, aber das Wasser in seiner Schürze nach Hause bringt, ohne einen Tropfen zu verlieren.

Doch gibt es auch Geschichten, in denen Jesus seine Kräfte missbraucht und einen Jungen im Streit tötet. Der verzweifelte Joseph schickt ihn zur Erziehug zu einem Gelehrten namens Zachäus, doch dieser gibt verzweifelt auf, weil Jesus zu aufmüpfig ist und für andere eine Gefahr darstellt. Der positive Aspekt der seltsamen Episoden: Jesus wird mit zunehmendem Alter immer liebenswürdiger und setzt seine Kräfte für Gutes ein.



Die Kreuzigung Jesu – sie wird von Fachleuten als historisches Ereignis angesehen. Was danach geschah, wissen wir nicht, doch die Jünger Jesu kamen irgendwie zur Überzeugung, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Dieser Glaube markiert den Anfang der Christentümer.


Mein Name ist Christus, Jesus Christus

Es gibt Menschen, die glauben, der komplette Name Jesu lautete Jesus Christus – frei nach dem Muster von beispielsweise Sepp Müller. Doch Familiennamen dieser Art waren unter dem einfachen Volk damals und noch lange danach nicht üblich. Christus ist gar kein Name, sondern ein Hoheitstitel. Bevor wir also über die Familie des historischen Jesus weiter diskutieren, lohnt sich ein genauerer Blick auf seinen Namen.

Der uns vertraute Name Jesus kommt aus den griechisch geschriebenen Evangelien. Dort steht Iesoús. Jesus selbst aber sprach Aramäisch und trug den hebräischen, weit verbreiteten Namen Jeshua oder Joshua (in seiner längeren Form Jehoshua), was übersetzt „Jahwe rettet“ oder „Jahwe hilft“ bedeutet. Sehr viele jüdische Namen tragen die Vorsilbe Je-. Wahrlich, ein echterer jüdischer Name ist kaum denkbar – er bezieht sich auf den einzigen wahren Gott der Juden, Jahwe.

Häufige Namen kommen in jeder Stadt mehrmals vor, also muss man irgendwie unterscheiden, welcher Jeshua gerade gemeint ist. Die Juden präzisierten traditionell auf zwei Arten: Durch die Angabe des Vaters und/oder die des Heimatorts. Die letztere Möglichkeit findet sich in den Evangelien und in der Apostelgeschichte sehr häufig: Der Nazarener, Nazoraios oder Jesus von Nazareth. Die andere geläufige Möglichkeit jener Zeit, den Vater anzugeben, in unserem Fall also Jesus, der Sohn Josephs, finden wir in den Evangelien nicht direkt, indirekt aber sehr wohl und wiederholt: „Ist das nicht Josephs Sohn?“

Für moderne Menschen viel schwerer zu verstehen ist das zweite Wort, Christus, von dem wir jetzt wissen, dass es kein Name, sondern ein Titel ist. Um ihn zu verstehen, müssen wir uns weit in die Geschichte der antiken Welt versetzen. In Israel, in Ägypten und anderen östlichen Reichen war es Brauch, wichtige Würdenträger wie Herrscher, Könige oder Priester als Zeichen ihrer Amtseinführung zu salben, also kostbares Öl aus einem ebenso kostbaren Gefäß auf ihr Haupt zu gießen. (Den Griechen und Römern war eine solche Salbung allerdings ähnlich fremd wie uns heute.)

In der Regel waren es Könige oder Priester, die gesalbt wurden. Auch Jesus war nach seiner eigenen Ansicht und dem Glauben seiner Nachfolger nach König: der verheißene Messias, der Gesalbte. Das hebräische hammāšîaḥ und das aramäische məšîḥā’ wurde als Messias ins Griechische transkribiert. Das Wort findet sich in dieser Form zweimal im Neuen Testament (Johannes 1,41 und 4,25). Viel häufiger finden wir den Begriff wörtlich ins Griechische übersetzt: Χριστóς, Christós, der Gesalbte. Die latinisierte Form davon ist Christus.


Wie aus 20 Jüngern die größte Weltreligion wurde

Um das Jahr 30 n. Chr. streiften ungefähr 20 Mitglieder einer kleinen, unbedeutenden Gemeinschaft von jüdischen Gläubigen durch die ebenso unbedeutende römische Provinz Galiläa im nördlichen Palästina. Ihr Anführer war ein etwa dreißigjähriger apokalyptischer Wanderprediger namens Jeshua ben Jōsēf. Er lebte in einer spärlich besiedelten und unbedeutenden Siedlung mit vielleicht 200 bis 500 Seelen namens Nazareth.

Wie ist das Phänomen dieses steilen Aufstiegs – von einer Schar verschreckter Jünger zur Staatsreligion des Römischen Reiches und größer je existierenden Weltreligion – erklärbar? Viele Historiker halten dies für die allergrößte und allerbedeutendste Frage unserer gesamten Geschichte. Für Gläubige ist es leicht, eine schlüssige Antwort zu geben: Es war Gottes Wille, damit die Dinge genauso geschahen. Aus einem winzigen Setzling sollte ein riesiger Baum werden. Weltliche Historiker müssen freilich nach anderen Antworten suchen.




So kennen wir Jesus aus unzähligen Abbildungen. Sicher ist: So wie dieser kaukasisch-europäischer Menschentyp hat er bestimmt nicht ausgehen. Jesus war ein semitischer Mann aus dem Nahen Osten. Es gibt glaubwürdige forensische Gesichtsreduktionen auf Basis vieler Schädel aus Jesu Zeit. Es lohnt sich nach ihnen im Internet zu suchen.


Das Umfeld, in dem Jesus lebte

Der Jude Jesus wurde in eine Zeit hineingeboren, die reif für Reformen war. Dass er vor allem in ländlichen Gegenden auf großes Interesse der einfachen Leute stieß, unterstreicht die Nöte, in denen sie gelebt haben. Die Steuerlast war enorm. Die meisten Menschen lebten von der Hand in den Mund. Zugleich wackelten die traditionellen Werte der jüdischen Gesellschaft, wie sie in der Tora festgeschrieben waren. Profitstreben und Materialismus prägten die Gesellschaft. Die Pflege der Spiritualität lag – zum Teil wenig befriedigend – in der Hand einer dünnen Oberschicht und einiger tonangebender Gruppierungen wie der Pharisäer und Sadduzäer. Die Hohepriester und der Ältestenrat machten gemeinsame Sache mit den römischen Besatzern – das Volk fühlte sich von allen Seiten ausgebeutet.

Wenn wir die Gleichnisse der Evangelien aufmerksam lesen, bekommen wir ein ungefähres Bild von der Welt, in der Jesus lebte. Es war eine Welt aus Arm und Reich, aus zu vielen Menschen am Existenzminimum, denen eine dünne Schicht von Privilegierten gegenüberstand. Experten schätzen, dass bis zu 90 Prozent der Galiläer Landwirtschaft betrieben. Und – wenn wir über Jesus und seine Jünger sprechen, dürfen wir das nicht vergessen – lebten viele rund um den See Genezareth von der Fischerei. Neben Oliven, Getreide und Wein exportierte Galiläa vor allem Fisch, der haltbar gemacht wurde und so auf den endlosen Straßen Roms in weit gelegene Gegenden gelangte.

Es war eine Zeit der Globalisierung: Im Imperium Romanum finden wir eine erste globalisierte Welt. Das Währungssystem und die Geldwirtschaft der Römer veränderten das traditionelle Leben der einfachen Menschen zunehmend. Der Tauschhandel trat zugunsten von Bargeld in den Hintergrund. Und wie heute, gab Verlierer dieses Systems. Auch damals schon gab es Großgrundbesitzer und Kleinbauern, und eine einzige Missernte konnte die Kleinen in Not und Hunger treiben, sodass die Großen ihr Land aufkaufen und noch größer werden konnten.

In solchen Zeiten hatten Wanderprediger Hochkonjunktur mit ihren Versprechungen über eine wie auch immer geartete Erneuerung. Einige waren sanft, andere militant. Die Hoffnung, dass einer von ihnen der erwartete Befreier aus den beengten Verhältnissen, der Messias sein würde, war überall in Israel spürbar. Und von Jesus muss eine große Faszination ausgegangen sein. Uns ist das Bild eines sanften Jesus der Liebe vertraut, der sich als Lamm Gottes widerstandslos zur Schlachtbank führen lässt. Doch manche seiner Aussagen – soweit sie historisch sind – und ein gewisser Erfolg seiner Mission deuten auf einen selbstbewussten und manchmal auch harten Lehrer hin. Seine Selbstsicherheit und sein Sendungsbewusstsein mussten beträchtlich gewesen sein. Immerhin beanspruchte er, die Vollmacht Gottes zu besitzen und sagte ganz klar: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich". Ja, in mancher Hinsicht war Jesus radikal. So radikal, dass sich manche abgestoßen fühlten.


Ein wenig Geschichte

In Jerusalem geriet Jesus aus Nazareth kurz vor dem jährlichen Pessahfest in Konflikt mit den jüdischen und römischen Eliten. Für die römische Obrigkeit war Pessah wegen dem beträchtlichen Menschenauflauf eine recht heikle Zeit, da es in der Provinz Galiläa gesellschaftlich schon lange kochte und brodelte. Ein Prediger, der den Priestern ihre Scheinheiligkeit und Gier vorwarf und das Volk wütend machte, musste für diese Politiker gefährlich aussehen.

Schließlich wurde Jesus auf die furchtbarste Art jener Zeit hingerichtet, die nur bei Nichtrömern und entlaufenen oder rebellische Sklaven zur Anwendung kam: durch Kreuzigung. Die verstörte kleine Schar seiner Jünger (das waren mindestens 11 Männer und etliche Frauen, die Jesus begleiteten) kamen nach wenigen Tagen zu einer welthistorisch entscheidenden Überzeugung: Jesus sei von den Toten auferstanden, da manche von ihnen meinten, sein Grab leer vorgefunden zu haben. Wahrscheinlich hatten manche auch äußerst realistisch wirkende Visionen von ihm, solche sind auch der modernen wissenschaftlichen Psychologie bekannt. Die Nachricht darüber breitete sich laut Evangelien „wie ein Lauffeuer“ aus. Doch der harte Kern der Gläubigen – das waren weiterhin nur eine Handvoll Frauen und Männer. Eine realistische Einschätzung ist daher, dass die römische Welt jener Zeit überhaupt keine Notiz davon nahm, ebenso wenig die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft. Einer der vielen Wanderprediger jener Zeit wurde exekutiert; hätte es damals gedruckte Zeitungen gegeben, die Nachricht hätte hinten im Lokalteil gestanden.

Diese winzige, anfänglich ebenso eingeschüchterte wie erschütterte regionale Gemeinschaft jüdischer Gläubiger, die aus niederen sozialen Schichten stammte und wahrscheinlich nicht lesen und schreiben konnte, hatte im Römischen Reich keinerlei Bekanntheit und Bedeutung. Die nächsten 150 Jahre lang fanden es nur höchstens fünf römische Autoren erwähnenswert, Jesus und die Christen in wenigen Zeilen überhaupt zu erwähnen; die allermeisten antiken Quellen aber schwiegen über sie völlig.

Doch lediglich 300 Jahre später wuchs diese kleine Schar zur größten Religion des Imperium Romanum heran. Zuerst wurde sie groß genug, dass man sie verfolgte, dann machte Kaiser Konstantin (272–337 n. Chr.) das Christentum salonfähig. Die Christen selbst verstrickten sich unterdessen in immer heftigere Streitigkeiten über die Natur von Jesus: Ob er ein Mensch war oder auf keinen Fall ein Mensch sein konnte (manche konnten sich beispielsweise nicht vorstellen, dass Gott auch Darmfunktionen hatte), ob er schon vorher bei Gott war oder erst nach seiner Auferstehung zu ihm gekommen ist und ähnliches mehr. Konstantin legte beim Konzil von Nicäa in Kleinasien im Jahr 325 n. Chr. fest, was man über Jesus rechtgläubig (= orthodox, damit ist nicht die Ostkirche gemeint) glauben sollte. Weitere sechs Jahrzehnte später wurde unter Theodosius I. (347–395 n. Chr.) das Christentum zur alleinigen Staatsreligion des riesigen Imperiums rund um das Mittelmeer und weit darüber hinaus. (Die heidnischen Kulte wurden kurzerhand verboten.) Später sollte diese Religion mit gegenwärtig 2,26 Milliarden Anhängern zur bei weitem größten Weltreligion der Menschheitsgeschichte werden.


Zusammenfassend

Zwischen den legendär ausgeschmückten Narrativen des Weihnachtsfestes, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, der Überlieferungen zum Geburtstag Jesu und der historischen Wahrheit liegen Welten. Dass Jesus gelebt hat, ist für die allermeisten Wissenschaftler und Historiker keine Frage, doch gesicherte historische Daten zu seiner Geburt und deren Umständen haben wir nicht.


Der Autor vor der Kulisse von Jerusalem.


(c) Robert Hofrichter, 2021