Die populären Meeresschildkröten und die verworrenen Wege ihrer Evolution

Schildkröten gibt es im Meer, an Land und im Sumpf bzw. Süßwasser, überall auf der Erde, wo es nicht zu kalt für diese „Reptilien“ ist (warum wir Reptilien mit Anführungszeichen schreiben, wird unten im Beitrag erklärt). Viele Menschen haben keine besonders positive Beziehung zu „Reptilien“, besonders Schlangen, doch bilden die Schildkröten eine Ausnahme. Sehr viele Menschen lieben sie! Meeresschildkröten sind eigentlich vierfüßige Landwirbeltiere, zoologisch Tetrapoden also. Wo haben sie sich nun entwickelt? An Land natürlich! Doch wie sind sie dann wieder ins Meer gelangt? Und im Fall der Sumpfschildkröten ins Süßwasser?

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Eine verletzte Meeresschildkröte wird in einer griechischen NGO behandelt. Diese Tiergruppe ist im Mittelmeer besonders stark bedroht.


Alle Schildkröten (wie sämtliche wasserlebende Landwirbeltiere) atmen mit der Lunge

Unter den Wirbeltieren sind die Meeresschildkröten scheinbar jene, die am schlechtesten ans Wasserleben angepasst sind: Sie müssen (wie auch die Robben) wegen der Reproduktion bzw. Eiablage an Land. Im Fall der Schildkröten sind es Sandstrände. Was die Atmung betrifft, sind sie sekundär wasserbewohnende Wirbeltiere: Sie alle müssen von Zeit zu Zeit auftauchen, um Luft zu atmen. Keine einzige Art der wasserbewohnenden Landwirbeltiere – und davon gibt es eine ganze Reihe – konnte die Lungenatmung aufgeben und sekundär so etwas wie eine Kiemenatmung (wieder)einführen. Die Evolution macht manchmal auch große Sprünge, obwohl sie meist klein sind, aber eine „sekundäre Kieme“ war in der (erdgeschichtlich gesehen) „kurzen Zeit“ doch nicht möglich.


Eine Pazifische Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata bissa) bei den Seychellen. Aus manchen Meeresschildkröten haben sich später die Landschildkröten entwickelt. Hier ging die Evolution verworrene Wege: Aus dem Wasser an Land (Fische zu Amphibien), dann Evolution der vierfüßigen Landwirbeltiere (Tetrapoda), dann Rückkehr mancher „primärer Landschildkröten“ ins Wasser (daraus sind die Meeresschildkröten entstanden), dann Rückkehr mancher Meeresschildkröten an Land, woraus sich die heutigen Landschildkröten entwickelt haben, denn die „primären Landschildkröten“ sind ausgestorben. Und bei den Süßwasser-Sumpfschidkröten ist es noch extremer: Sie haben sich noch einmal ins Wasser begeben, denn sie stammen von Landschildkröten ab.


Der Panzer – ein Wunder der Evolution: Zuerst war der Bauchpanzer da

Unter allen Merkmalen der Schildkröten ist der Panzer das auffälligste. Und gerade dieser Panzer wirft bei fossilen Formen, die man zum Teil erst vor Kurzem gefunden hat, viele spannende Fragen auf. Die Wasserschildkröte Odontochelys semitestacea aus der späteren Triaszeit wurde in China in 220 Millionen Jahre alten Sedimenten gefunden. Die Entdeckung und anschließende Veröffentlichung in Nature rief in Fachkreisen rege Diskussionen hervor. Denn, wie der Name schon verrät, hatte diese Schildkröte (anders als heutige Schildkröten) nicht nur Zähne an den Kiefern, sondern besaß auch nur den halben Panzer, nämlich den Bauchpanzer (Plastron). Der Rückenpanzer (Carapax) fehlte. Außerdem hatte die Art einen wesentlich längeren und kräftigeren Schwanz als die heutigen Gruppenvertreter. Damit weist Odontochelys drei Merkmale einer echten Übergangsform auf. Es ist naheliegend, dass sich die Autoren seinerzeit freuten, denn sie glaubten fest daran, einen Vorfahren der Schildkröten entdeckt zu haben, der sich in der Mitte des Weges bei der Entwicklung des Panzers befand. Doch die Freude blieb nicht lange ungetrübt.

Andere Fachleute äußerten nämlich die Meinung, dass es genauso möglich wäre, dass die Vorfahren von Odontochelys bereits an Land einen kompletten Panzer mit Carapax besaßen, bevor sie wieder ins Wasser zurückgingen und den Rückenpanzer reduzierten. Das wäre nicht ganz auszuschließen, denn schließlich ist Vergleichbares auch bei der Lederschildkröte Dermochelys im Meer passiert, bei welcher der Rückenpanzer stark zurückgebildet ist.

Wozu ist ein halber Panzer, noch dazu der bauchseitige, überhaupt gut? Eine Möglichkeit wäre, dass sich Odontochelys verstärkt unter der Wasseroberfläche aufhielt und die Prädatoren vor allem von unten angriffen (wie es auch heute beispielsweise Haie tun). Die grundsätzliche Schutzfärbung der meisten Knochen- und Knorpelfische, und selbst Waltiere, macht es deutlich: Die Oberseite ist dunkler, die Unterseite heller, weil man die potenzielle Beute dann von unten weniger gut sieht.


Drei Hypothesen zur Evolution der Schildkröten und Entwicklung des Panzers:

a/ Der Panzer hat sich an Land schon vor Odontochelys vollständig entwickelt. Dann kehrten die Vorfahren von Odontochelys ins Wasser zurück und reduzierten den Rückenpanzer, so dass nur das Plastron auf der Bauchseite erhalten blieb.

b/ Der Panzer hat sich im Wasser entwickelt und Odontochelys zeigt den „halben Weg“ in seiner Evolution. Der Rückenpanzer wäre dann erst später hinzugekommen. Der Panzer von Proganochelys und Palaeocheris, den es schon kurz nach Odontochelys vollständig ausgebildet gab, hat sich unabhängig davon (!) entwickelt.

c/ Proganochelys und Palaeocheris bilden einen frühen Seitenast, der die Rückkehr aus dem Wasser an Land repräsentiert, ähnlich wie später die Testudinidae (Landschildkröten). Das würde bedeuten, dass der bemerkenswerte Schritt von ursprünglichen Landreptilien (wie die frühen Schildkröten es waren) ins Wasser (Meeresschildkröten) und dann wieder zurück an Land gleich zweimal in der Stammesgeschichte passierte: einmal bei Proganochelys und Palaeocheris und dann bei den Testudinidae!

d/ Wo stehen aber die Süßwasserschildkröten? Davon gibt es zwei Familien, die man erst vor Kurzem getrennt hat: die Neuwelt-Sumpfschildkröten (Emydidae) und die Altwelt-Sumpfschildkröten (Geoemydidae). Um die Verwirrung komplett zu machen: Die Europäische Sumpfschildkröte Emys orbicularis, die auch im Mittelmeerraum vorkommt, zählt zu den ansonsten vollständig neuweltlichen Neuwelt-Sumpfschildkröten! Die Landschildkröten stehen zwischen den beiden genannten Gruppen von Sumpfschildkröten, mit denen sie eng verwandt sind. Sie stammen aber sehr wahrscheinlich von den Meeresschildköten ab. Bilden nun die Sumpfschildkröten im Süßwasser einen Seitenast bei dieser zweiten Rückkehr der Wirbeltiere vom Meer ans Land, oder aber haben sie sich aus den Landschildkröten entwickelt, von denen manche erneut – nach dem zweiten Landgang also –, wieder zum Wasserleben zurückgekehrt sind?


Eine verwirrende Evolutionsgeschichte

Die Stammesgeschichte der Schildkröten ist verwirrend genug, daher noch eine kurze Zusammenfassung:

· Erster Exodus aus dem Wasser: Fische werden zu Lurchen (Amphibien) und später – über die „Reptilien“ – zu den Vorfahren von irgendwelchen „primären Landschildkröten“.

· Dann folgt die erste Rückkehr mancher dieser „primären Landschildkröten“ ins Wasser, wo sie mit ihren Vorfahren, den Fischen, leben und zu Meeresschildkröten werden.

· Doch gehen in einem zweiten Exodus manche Meeresschildkröten aus dem Wasser an Land und bilden die Basis der Testudinidae, der heutigen Landschildkröten. Die „primären Landschildkröten“ sterben irgendwann aus.

· Es ist möglich, dass es bei den Sumpfschildkröten eine zweite Rückkehr ins Wasser gegeben hat, da sie sich aus Landschildkröten entwickelt haben.

· Die verworrenen Wege der Evolution der Schildkröten zwischen Wasser und Land wurden durch die Entdeckung von zwei fossilen Formen aus der Trias, Proganochelys und Palaeocheris, noch einmal verworrener. Beide Arten waren vollkommen gepanzert, waren Landschildkröten (wie die Form der Beine zeigt, die keine Paddel, sondern Laufbeine sind) und gehörten nicht zu den viel später erscheinenden Landschildkröten, den Testudinidae, zu denen sämtlichen rezenten Landschildkröten zählen.

Und da ist das letzte Wort zur Evolution der Schildkröten sicher noch nicht gesprochen. Übrigens ist die Stellung der Schildkröten innerhalb der „Reptilia“ immer noch unklar.


Meeresschildkröten sind Halsberger, die ihren Hals nicht bergen können

Nun aber zu den Meeresschildkröten (Familie Cheloniidae) der Gegenwart, über die wir doch sehr viel mehr wissen, als über jene der Erdgeschichte. Sie gehören zwar zu den sogenannten Halsbergern (Cryptodira), einer Untergruppe der Schildkröten, die ihren Kopf geradlinig unter den Panzer zurückziehen können; diese namengebende Fähigkeit haben die Meeresschildkröten jedoch verloren: Weder der Kopf noch die paddelartigen Extremitäten, von denen die vorderen dem Antrieb und die hinteren als Steuerruder dienen, lassen sich unter dem Panzer verstecken.


Seychellen-Riesenschildkröten gibt es nicht mehr, die einzige Art im Indischen Ozean ist die Aldabra-Riesenschildkröte (Aldabrachelys gigantea). Überraschend: Landschildkröten (Testudinidae) wie diese haben sich aus Meeresschildkröten entwickelt, die in einem zweiten Exodus aus dem Wasser an Land gegangen sind.


Schildkröten sind Reptilien. Oder „Reptilien“?

Das Schildkröten zu den Reptilien (also Kriechtieren) gehören, wusste früher jedes Kind. Die Bezeichnung „Reptilia“ gilt aber in der Wissenschaft nicht mehr, zumindest nicht ohne Anführungszeichen geschrieben, weil diese Verwandtschaft nicht alle Nachkommen ihres letzten gemeinsamen Vorfahren enthalten. Biologen nennen ein solches Taxon (= Verwandtschaftsgruppe) paraphyletisch. Eine natürliche und damit zoologisch gültige Gruppe – die würde man dann als monophyletisch bezeichnen – wären die Reptilien dann, wenn man auch die Vögel dazurechnen würde, weil diese von „Reptilien“ abstammen, konkret von einem Zweig der „Reptilia“, der Dinosauria heißt. Alle heute lebenden Reptilien sind mit den Vögeln näher verwandt als mit den Säugetieren.

(c) Robert Hofrichter, 2022